Das Bundesgericht hatte sich im Urteil BGer 4A_614/2019 vom 26. Februar 2020 mit der Frage auseinanderzusetzen, ob einem Arbeitnehmer, welcher einen sog. Arbeitsvertrag auf Abruf hatte, Überstunden zu entschädigen seien (mit einem Zuschlag von 25%).
Arbeit auf Abruf
Der Begriff der Arbeit auf Abruf wird unterschiedlich verwendet. Im Allgemeinen geht es darum, dass sich ein Arbeitnehmer bereithält und vom Arbeitgeber abgerufen werden kann. Um die rechtliche Ausgestaltung eines Arbeitsvertrages zu beurteilen kommt es darauf an, ob der Arbeitnehmer bei einem Abruf verpflichtet ist, diesem Folge zu leisten (sog. echter Vertrag auf Abruf) oder nicht (sog. unechter Vertrag auf Abruf).
Bei einem unechten Arbeitsvertrag auf Abruf ist der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, dem Abruf des Arbeitgebers Folge zu leisten. Der Arbeitnehmer hat es in der Hand, das Angebot des Arbeitgebers zu akzeptieren. Dabei kommt ein Vertrag mit den angebotenen Konditionen zustande. Mit jedem akzeptierten Abruf kommt ein neues befristetes Arbeitsverhältnis zustande.
Rechnen die Parteien im vornherein mit einer Häufung der Einsätze, wird regelmässig eine Rahmenvereinbarung abgeschlossen. Dieser stellt noch keinen Arbeitsvertrag dar. Er legt aber die Arbeitsbedingungen für die künftigen Einsätze fest. Sollen die Einsätze in einem fremden Betrieb geleistet werden, liegt regelmässig Termporärarbeit vor. Bei der Arbeit auf Abruf ist insbesondere das Verbot der Kettenarbeitsverträge zu beachten (siehe auch den Beitrag betreffend die Zulässigkeit von Kettenarbeitsverträgen).
Zur Abgrenzung des echten vom unechten Vertrag auf Abruf hat das Kantonsgericht St. Gallen etwa das folgende festgehalten (BE.2017.30): Die echte wie auch die unechte Arbeit auf Abruf sind Formen der (uneigentlichen) Teilzeitarbeit. Sie unterscheiden sich dadurch, dass den Arbeitnehmer bei der echten Arbeit auf Abruf eine Einsatzpflicht nach Weisung des Arbeitgebers trifft (einseitiger Abruf durch den Arbeitgeber), wohingegen der Arbeitnehmer bei der unechten Arbeit auf Abruf keine Einsatzpflicht hat und ein Einsatz erst aufgrund einer gegenseitigen Vereinbarung zustande kommt. Bei der unechten Arbeit auf Abruf liegt den einzelnen Einsätzen oftmals ein Rahmenvertrag zugrunde. Ein solcher Rahmenvertrag regelt die Arbeitsbedingungen zwar einheitlich, stellt jedoch selbst noch keinen Arbeitsvertrag dar, da sich der Arbeitnehmer darin nicht zur Leistung von Arbeit verpflichtet (vgl. BGer 4A_509/2009 E. 2.3, 4A_334/2017 E. 2.2; BGE 124 III 249 E. 2.a; Streiff/von Kaenel/Rudolph, Arbeitsvertrag, Art. 319 N 18, S. 111, 116; BSK OR I-Portmann/Rudolph, Art. 321 N 19; CHK-Emmel, N 6 zu Art. 321 OR; ZK-Staehelin, Art. 319 OR N 58; Brühwiler, Einzelarbeitsvertrag, Kommentar zu den Art. 319-343 OR, Art. 319 N 11, S. 32; BK-Rehbinder/Stöckli, Art. 319 OR N 35, wobei Letztere bei einem Ablehnungsrecht des Arbeitnehmers nicht von Arbeit auf Abruf, sondern von Gelegenheitsarbeit ausgehen). Von der Arbeit auf Abruf ist die eigentliche Teilzeitarbeit zu unterscheiden. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der reduzierte Arbeitseinsatz wiederholt und mit im Voraus bestimmten – wenn auch möglicherweise unregelmässigen – Arbeitszeiten erfolgt (Streiff/von Kaenel/Rudolph, a.a.O., Art. 319 N 18, S. 110).
Sachverhalt in BGer 4A_614/2019 vom 26. Februar 2020
Der Arbeitnehmer arbeitete als Chauffeur auf Abruf zu einem festen Tageslohn. Zur Arbeitszeit wurde Folgendes vereinbart:
5.1: Der Arbeitnehmer arbeitet grundsätzlich auf Abruf. Wird der Arbeitnehmer an einem Tag beschäftigt, so teilt ihm der Arbeitgeber an diesem Tag mit, in welchem Umfang Arbeit für den nächsten Tag verfügbar ist. Arbeitet der Arbeitnehmer an einem Tag nicht, so erkundigt er sich im Laufe des Nachmittages beim Arbeitgeber darüber, ob für den nächsten Tag ein Arbeitseinsatz erfolgt. Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, Arbeitseinsätze des Arbeitgebers anzunehmen.
5.2: Eine maximale, tägliche Arbeitszeit besteht – abgesehen von den arbeitsgesetzlichen und anderen öffentlich-rechtlichen Bestimmungen – nicht. Der für Arbeitseinsätze vorgesehene Zeitrahmen ist in der Regel zwischen 06.30 und 17.30 Uhr.
5.3: Im Rahmen der Arbeitseinsätze über den täglichen Zeitrahmen gemäss Ziff. 5.2 hinaus geleistete Arbeit gilt nicht als Überstundenarbeit, auch wenn sie ausserhalb der betriebsüblichen Arbeitszeit geleistet wird. Sie ist zu den ordentlichen Ansätzen – ohne Überstundenzuschlag – zu entschädigen.
In der Folge machte der Arbeitnehmer Überstunden geltend. Er war der Ansicht, dass die Parteien in Ziff. 5.3 des Arbeitsvertrags eine Überstundenregelung getroffen hätten, wonach Arbeitsstunden ausserhalb des Zeitrahmens gemäss Ziff. 5.2 keine entschädigungspflichtigen Überstunden darstellten (siehe auch den Beitrag betreffend Überstunden).
Mit dieser Regelung sei gleichzeitig bestimmt worden, dass innerhalb des Zeitrahmens angefallene Überstunden zu entschädigen seien, und zwar ohne Überstundenzuschlag. Allein aufgrund des Umstands, dass die Parteien in Ziff. 5.3 eine Überstundenregelung getroffen hätten, sei es für den Beschwerdeführer nicht erkennbar gewesen, dass keine feste Sollarbeitszeit bestanden habe. Eine solche Regelung hätte nicht dem Parteiwillen des Beschwerdeführers entsprochen. Enthielte Ziff. 5.2 eine flexible Sollarbeitszeit und könnten deswegen keine Überstunden anfallen, würde Ziff. 5.3 keinerlei Sinn ergeben. Die Parteien hätten angenommen, dass innerhalb des Zeitrahmens gemäss Ziff. 5.2 Überstunden anfallen könnten, weshalb die Beschwerdegegnerin in Ziff. 5.3 eine Überstundenregelung statuiert habe. Der Ausschluss von Überstunden beinhalte eine Überstundenregelung und mache nur dann Sinn, wenn Überstunden grundsätzlich möglich seien. Weil die Parteien keine Sollarbeitszeit vereinbart hätten, kein Gesamtarbeitsvertrag und keine betriebliche Übung bestehe, sei auf die branchenübliche Sollarbeitszeit eines Chauffeurs im Kanton Luzern abzustellen, die gemäss den Erhebungen des Bundesamtes für Statistik für das Jahr 2013 42.1 Stunden, für das Jahr 2014 42.5 Stunden und für die Jahre 2015 und 2016 42.6 Stunden betragen habe.
Entscheid der oberen kantonalen Instanz (Kantonsgerichts Luzern, 1. Abteilung, vom 6. November 2019 (1B 19 14))
Die obere kantonale Instanz wies die Klage ab: Der Arbeitsvertrag sehe in Ziff. 5.2 vor, dass keine maximale, tägliche Arbeitszeit bestehe, „abgesehen von den arbeitsgesetzlichen und anderen öffentlich-rechtlichen Bestimmungen“. Auf das vorliegende Arbeitsverhältnis komme die Verordnung vom 19. Juni 1995 über die Arbeits- und Ruhezeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer und -führerinnen (Chauffeurverordnung, ARV 1; SR 822.221) zur Anwendung. Gemäss Art. 6 Abs. 1 der Chauffeurverordnung darf die wöchentliche Arbeitszeit in einem Zeitraum von 26 Wochen einen Wochendurchschnitt von 48 Stunden nicht überschreiten, während die wöchentliche Höchstarbeitszeit bis zu 60 Stunden betragen kann. Die Vorinstanz erkannte, die Parteien hätten in Ziff. 5.2 des Arbeitsvertrags mit dem Arbeitszeitrahmen zwischen 06.30 und 17.30 Uhr und der fixen Obergrenze gemäss Art. 6 Abs. 1 der Chauffeurverordnung eine genügend bestimmte Regelung der Arbeitszeit getroffen.
Weiter führte die Vorinstanz aus, in Ziff. 5.3 des Arbeitsvertrags sei festgehalten, dass im „Rahmen der Arbeitseinsätze über den täglichen Zeitrahmen gemäss Ziff. 5.2 hinaus geleistete Arbeit“ nicht als Überstundenarbeit gelte, auch wenn sie ausserhalb der betriebsüblichen Arbeitszeit geleistet werde. Sie sei „zu den ordentlichen Ansätzen“ – ohne Überstundenzuschlag – zu entschädigen. Aus dieser Regelung könne nicht geschlossen werden, die Parteien seien davon ausgegangen, dass innerhalb des Zeitrahmens Überstunden anfallen könnten. Vielmehr sei mit dieser Bestimmung ein Überstundenzuschlag für ausserhalb des Zeitrahmens geleistete Stunden ausgeschlossen worden. Der Beschwerdeführer habe die Höchstarbeitszeit gemäss Art. 6 Abs. 1 der Chauffeurverordnung nie überschritten.
Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht schützte den Entscheid der kantonalen Vorinstanz. Die Ansicht der oberen kantonalen Instanz, dass die Parteien ein flexibles Arbeitszeitmodell gewählt hatten, ohne eine feste Sollarbeitszeit zu vereinbaren, sei nicht zu beanstanden. Die Obergrenze der zulässigen Arbeitstunden ergebe sich sich aus Art. 6 Abs. 1 der Chauffeurverordnung, wonach die wöchentliche Arbeitszeit in einem Zeitraum von 26 Wochen einen Wochendurchschnitt von 48 Stunden nicht überschreiten darf, während die wöchentliche Höchstarbeitszeit bei 60 Stunden liegt. Es sei für die Arbeit auf Abruf charakteristisch, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in einem festgelegten Zeitrahmen Arbeit zuweist.
Entgegen den Ausführungen des Arbeitnehmers dränge Ziff. 5.3 des Arbeitsvertrags nicht den Umkehrschluss auf, dass innerhalb des Zeitrahmens von 06.30 und 17.30 Uhr Überstunden anfallen können. Vielmehr sei die vorinstanzliche Annahme vertretbar, dass in Ziff. 5.3 des Arbeitsvertrags schlicht ein Überstundenzuschlag für ausserhalb des Zeitrahmens geleistete Stunden ausgeschlossen wurde. Insofern geht Ziff. 5.3 entgegen der Annahme des Beschwerdeführers nicht jeder Sinn ab: sie stellt klar, dass der angegebene Zeitrahmen nicht bedeutet, darüber hinaus oder gänzlich ausserhalb davon geleistete Arbeitszeit gelte als Überstundenarbeit.
Autor: Nicolas Facincani