Im Rahmen eins kürzlich ergangenen Urteils des Bundesgerichts (BGer 4A_479/2020 vom 30. August 2022), befasste sich dieses insbesondere mit der Haftung des Arbeitgebers im Zusammenhang der Fürsorgepflicht Damit verbunden ist die Haftung von juristischen Personen bei Verletzung der Fürsorgepflicht. Der Arbeitnehmer (CS-Mitarbeiter) wurde im Februar 2011 von einem US-Gericht wegen Verschwörung zum Nachteil der USA angeklagt, weil er sich mit Kunden aus den USA getroffen oder mit ihnen telefoniert hatte, um ihre nicht deklarierten Konten zu besprechen. Zudem hatte er ihnen empfohlen, ihr Vermögen zu transferieren, um die Steuern in den USA zu umgehen. Der detaillierte Sachverhalt kann hier nachgelesen werden.
Allgemeines zur Fürsorgepflicht
Die Fürsorgepflicht ist eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht des Arbeitgebers (geregelt in Art. 328 OR), welche sich aus dem Persönlichkeitsschutz (Art. 27 f. ZGB) ableiten lässt. Sie ist das Gegenstück zur Treuepflicht und kompensiert den «Verlust der Selbständigkeit» durch die Unterordnung und das Weisungsrecht des Arbeitgebers (vgl. weitergehend: Etter/Sokoll, in: Etter/Facincani/Sutter, Arbeitsvertrag, Art. 328 N 2, 3).
Art. 328 OR lautet wie folgt:
VII. Schutz der Persönlichkeit des Arbeitnehmers
1. im Allgemeinen
1 Der Arbeitgeber hat im Arbeitsverhältnis die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen, auf dessen Gesundheit gebührend Rücksicht zu nehmen und für die Wahrung der Sittlichkeit zu sorgen. Er muss insbesondere dafür sorgen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht sexuell belästigt werden und dass den Opfern von sexuellen Belästigungen keine weiteren Nachteile entstehen.
2 Er hat zum Schutz von Leben, Gesundheit und persönlicher Integrität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes oder Haushaltes angemessen sind, soweit es mit Rücksicht auf das einzelne Arbeitsverhältnis und die Natur der Arbeitsleistung ihm billigerweise zugemutet werden kann.
Persönlichkeitsmerkmale?
Gemäss Sachverhalt machte der Arbeitnehmer geltend, der Arbeitgeber (d.h. die Bank für die gearbeitet hatte) habe ihn gezwungen, unter Bedingungen zu arbeiten, die seinen Ruf und seine wirtschaftliche Zukunft gefährdeten.
Die Persönlichkeitsrechte umfassen die Gesamtheit der wesentlichen – physischen, emotionalen und sozialen – Werte, die mit der menschlichen Person verbunden sind, namentlich das Leben, die physische und psychische Integrität, die Ehre, das soziale und berufliche Ansehen (vgl. Etter/Sokoll, in: Etter/Facincani/Sutter, Arbeitsvertrag, Art 328 N 6).
«Les droits de la personnalité englobent l’ensemble des valeurs essentielles – physiques, affectives et sociales – liées à la personne humaine, notamment la vie, l’intégrité physique et psychique, l’honneur, la considération sociale et professionnelle (E. 4.1)»
Vorliegend war die Arbeitgeberin eine juristische Person, weshalb sich hieraus die Frage nach der Haftung für das Handeln ihrer Organe und Hilfspersonen stellt. Weiter war auch Kausalität zu prüfen.
Haftung der Organe und Hilfspersonen
Nach Art. 55 Abs. 2 ZGB verpflichten die Organe einer juristischen Person diese durch ihre Rechtshandlungen und durch alle anderen Tatsachen. Insbesondere haftet die Aktiengesellschaft für unerlaubte Handlungen, die bei der Führung ihrer Geschäfte von einer Person begangen werden, die befugt ist, sie zu führen oder zu vertreten (Art. 722 OR).
Die Organstellung gemäss kann den Ausführungen des Bundesgerichts aus drei Quellen begründet werden:
Zunächst ist ein formelles Organ die Person oder Personengruppe, der das Gesetz oder die Statuten diese Eigenschaft verleihen (Generalversammlung, Verwaltungsrat, Revisionsstelle).
«Est tout d’abord un organe formel la personne ou le groupe de personnes à qui la loi ou les statuts confèrent cette qualité (assemblée générale, conseil d’administration, organe de révision).» (E. 4.2).
Ein Organ (im materiellen oder faktischen Sinne) ist auch, wer, ohne den Titel zu tragen, de facto Führungsaufgaben wahrnimmt, unabhängig Entscheidungen treffen kann und einen entscheidenden und dauerhaften Einfluss auf die Willensbildung der Gesellschaft ausübt.
«Est aussi un organe ( au sens matériel ou de fait) celui qui, sans en porter le titre, exerce de facto des fonctions dirigeantes, peut prendre des décisions de manière indépendante et exercer une influence décisive et durable sur la formation de la volonté sociale.» (E. 4.2)
Schließlich ist ein scheinbares Organ, wer scheinbar die Eigenschaft eines formellen Organs oder die Befugnisse eines De-facto-Organs erhalten hat, obwohl dies nicht der Fall ist.
«Enfin, est un organe apparent celui qui semble avoir reçu la qualité d’organe formel ou les pouvoirs d’un organe de fait alors qu’il n’en est rien.» (E.4.2)
Verletzt das Organ eine vertragliche Verpflichtung der juristischen Person, so haftet diese nach Art. 97 OR. Der Gläubiger muss die Erfüllung der übrigen Haftungsvoraussetzungen nachweisen, insbesondere den natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und dem behaupteten Schaden.
«Lorsque l’organe enfreint une obligation contractuelle pesant sur la personne morale, celle-ci en répond selon l’art. 97 CO. A charge pour le créancier de démontrer la réalisation des autres conditions de responsabilité, en particulier le lien de causalité naturelle et adéquate entre ce manquement et le dommage allégué»(E.4.2)
Haftung für Hilfspersonen
Art. 101 Abs. 1 OR lautet wie folgt:
Wer die Erfüllung einer Schuldpflicht oder die Ausübung eines Rechtes aus einem Schuldverhältnis, wenn auch befugterweise, durch eine Hilfsperson, wie Hausgenossen oder Arbeitnehmer vornehmen lässt, hat dem andern den Schaden zu ersetzen, den die Hilfsperson in Ausübung ihrer Verrichtungen verursacht.
Diese Bestimmung führt eine Haftung für das Handeln eines anderen ein. Der Schuldner haftet für die „hypothetische Vorwerfbarkeit“: Er wird nach der Sorgfalt beurteilt, die er hätte anwenden müssen, wenn er anstelle der Hilfsperson gehandelt hätte, und haftet in dieser Hinsicht für das Verhalten der Hilfsperson, als ob es sein eigenes wäre.
«Cette disposition institue une responsabilité pour le fait d’autrui. Le débiteur répond de sa „faute hypothétique“ ( hypothetische Vorwerfbarkeit) : il est jugé sur la diligence qu’il aurait dû observer s’il avait agi en lieu et place de l’auxiliaire et répond, de ce point de vue, du comportement de l’auxiliaire comme si c’était le sien» (E.4.3).
Der Arbeitgeber kann demnach für Persönlichkeitsverletzungen haften, die ein Arbeitnehmer zum Nachteil eines anderen Arbeitnehmers begeht. Hilfspersonen sind insbesondere die Vorgesetzten des geschädigten Arbeitnehmers und/oder die Personalverantwortlichen.
«L’employeur peut devoir répondre d’atteintes à la personnalité commises par un travailleur au détriment d’un autre travailleur. Sont en particulier des auxiliaires les supérieurs hiérarchiques de l’employé lésé et/ou les responsables du personnel» (E.4.3).
Die Pflichtverletzung der Hilfsperson muss die (natürliche und adäquate) Ursache für den verursachten Schaden sein.
«Le manquement de l’auxiliaire doit être la cause (naturelle et adéquate) du dommage causé» (E.4.3).
Zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers siehe auch (Auswahl):
- Arbeitgeberkündigung – Erhöhte Fürsorgepflicht bei älteren Arbeitnehmern
- Verhinderung von Arbeitsunfällen – Fürsorgepflicht
- Kündigung nach Verletzung der Fürsorgepflicht – Missbräuchlich!
- Verlust des Bewusstseins – Verletzung der Fürsorgepflicht?
- Schadenersatz bei missbräuchlicher Kündigung
- Fürsorgepflicht – Unfall an Stanzmaschine
- Leiterunfall beim Kirschenpflücken – Fürsorgepflichtverletzung
- Übernahme der Anwaltskosten
Autor: Nicolas Facincani / Matteo Ritzinger
Weitere umfassende Informationen zum Arbeitsrecht finden sie hier.