Das Bundesgericht hatte sich im Entscheid BGer 4A_89/2022 vom 20. September 2022 mit der Problematik der ungleichen Kräfteverhältnisse im Arbeitsvertrag auf Abruf zu beschäftigen, insbesondere mit der Frage, ob einem Arbeitnehmer ein Anspruch auf einen Abruf zusteht oder nicht. Dem Entscheid lag der folgende Sachverhalt zugrunde:

 

Der Sachverhalt

Die Arbeitnehmerin war als Psychotherapeutin in der Praxis des Arbeitgebers angestellt. Aus dem Arbeitsvertrag ergab sich die Regelung, dass der Beschäftigungsgrad der Arbeitnehmerin je nach den Bedürfnissen der Praxis variabel sei. Die gleiche Regelung galt für die wöchentliche Arbeitszeit. Zudem erfolgte die Lohnzahlung nach der Begleichung der Rechnungen durch die Patienten, wobei Abzüge für die Rechnungskosten vorgenommen wurden, und der Restbetrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmerin je hälftig aufgeteilt wurden.

Es ergab sich sodann eine Streitigkeit zwischen der Arbeitnehmerin und dem Arbeitgeber bezüglich der Lohnzahlungen. Diese beklagte Unregelmässigkeiten im Vergütungssystem und beschwerte sich bei der Arbeitgeberin, dass die Aufteilung der Beträge ihrer Ansicht nach nicht dem entspräche, was vereinbart worden sei.

Der Arbeitgeber wies der Arbeitnehmerin daraufhin keine neuen Patienten mehr zu und einige Monate später wurde ihr gekündigt. Die Arbeitnehmerin klagte auf Zahlung des Lohnausfalls und auf Entschädigung aufgrund missbräuchlicher Kündigung. Die Klage wurde von den Vorinstanzen gutgeheissen. Der Arbeitgeber gelangte schliesslich mit Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht.

 

Rechtsprechung zum Arbeitsvertrag auf Abruf

Gemäss Beurteilung der Vorinstanz lag der Streitigkeit ein Arbeitsvertrag auf Abruf zugrunde. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung erfolgt die Einordnung eines Vertrages auf Abruf anhand der Einsatzpflicht des Arbeitnehmers. Muss sich dieser zur Verfügung halten und hat er bei Abruf dem Arbeitgeber Folge zu leisten, so liegt ein echter Vertrag auf Abruf vor (BGer 4A_534/2017, E. 2.2). Ist der Arbeitnehmer hingegen nicht verpflichtet, dem Abruf des Arbeitgebers nachzukommen, so liegt ein unechter Vertrag auf Abruf vor. In diesen Fällen kann der Arbeitnehmer das Angebot akzeptieren oder ablehnen, wobei mit jedem akzeptierten Abruf ein neues befristetes Arbeitsverhältnis zustande kommt.

Das Grundproblem der Arbeit auf Abruf ergibt sich aus der Bereitschaftspflicht des Arbeitnehmers und der Freiheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer abzurufen oder nicht. Erhält der Arbeitnehmende kein Arbeitsangebot, so entfällt ihm das Einkommen, wobei er trotzdem nicht anderweitig über seine Zeit verfügen kann.

Das Bundesgericht sieht die Arbeit auf Abruf zwar grundsätzlich als zulässig an, seine zunehmend restriktive Rechtsprechung hierzu trägt jedoch auch vermehrt den Interessen der Arbeitnehmer Geltung. So hielt es in BGE 124 III 249 fest, dass der Arbeitgeber den Bereitschaftsdienst des Arbeitnehmers zwingend zu entschädigen hat, auch wenn dies mit reduzierter Entlöhnung erfolgen kann. Gemäss neuerer Rechtsprechung darf sich der Arbeitnehmende zudem auf ein bestimmtes Arbeitsvolumen verlassen. Aus Art. 324 Abs. 1 OR geht hervor, dass nicht der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitgeber das Betriebsrisiko trägt (BGer 4A_534/2017, E. 4.3). Verweigert dieser also aus wirtschaftlichen Gründen die Annahme der vom Arbeitgeber angebotenen Arbeitsleistung, gerät er in Annahmeverzug und bleibt zur Lohnzahlung verpflichtet (BGE 124 III 346, E. 2a). Der Arbeitnehmer hat zudem auch während der Kündigungsfirst einen Anspruch darauf, weiterhin die übliche Arbeit zugewiesen zu bekommen, da andernfalls der Schutzzweck der Kündigungsfristen ausgehöhlt würde (BGE 125 III 65, E. 4b).

Das Obergericht des Kantons Zürich hat sodann in Bezug auf einen unechten Vertrag auf Abruf in gleicher Weise entschieden (im Entscheid LA200037 vom 12. Mai 2021).

 

Vertrag auf Abruf darf nicht einseitig sein

Das Bundesgericht hatte sich nun erneut mit der Problematik der ungleichen Kräfteverhältnisse im Arbeitsvertrag auf Abruf zu beschäftigen. Es bestätigte hierbei weitgehend die Erkenntnisse der Vorinstanz. Gemäss dieser handelte es sich im vorliegenden Fall um einen Vertrag auf Abruf, der einzig und allein im Interesse des Arbeitgebers ausgestaltet wurde. Ein solches System, bei dem der Arbeitgeber die Arbeitszeit und die Vergütung der Arbeitnehmerin einseitig und nach seinen eigenen Bedürfnissen festlegen konnte, sei nicht mit Art. 324 Abs. 1 OR und Art. 326 OR vereinbar. Der Arbeitgeber durfte die Dienste der Arbeitnehmerin nicht plötzlich verweigern und ihr jegliche Vergütung vorenthalten. Er bliebe auch dann Lohnschuldner, wenn er der Arbeitnehmerin, die bereit war, Arbeit anzunehmen, nicht mehr genügend Arbeit verschaffe.

«Le législateur n’a pas voulu permettre à l’employeur de déterminer unilatéralement, en fonction de ses propres besoins, la durée du travail et la rétribution du travailleur […] La Cour d’appel n’a pas trahi ces préceptes en concluant que l’employeur devait procurer du travail en quantité suffisante à l’employée ou payer son salaire – que le motif de son refus ait une cause économique ou non.»

 Die Vorinstanz hielt weiterhin fest, dass der Arbeitgeber ohnehin kein schützenswertes Interesse daran hatte, der Arbeitnehmerin jegliche Zuweisung von Patienten zu verweigern. Dessen Behauptung, wonach die Beratungstätigkeit des Vaters der Arbeitnehmerin, eines ehemaligen Bundesrichters, auf eine «ungenügende Reife» ihrerseits schliessen lassen würde, sei nicht stichhaltig. Zudem hätte der Arbeitgeber, wenn er seine Mitarbeiterin für unreif hielte, ihr nicht nur keine neuen Patienten anvertrauen dürfen, sondern ihr auch die bereits von ihr betreuten Patienten entziehen müssen.

«En l’occurrence, le motif invoqué n’était pas même vraisemblable; il ne méritait de toute façon aucune protection. La collaboratrice n’avait soi-disant pas la maturité suffisante pour pratiquer sa fonction, défaut qui se serait révélé au moment où elle avait fait intervenir son père dans leur relation professionnelle. Il était pourtant légitime de demander conseil à un juriste, fût-il son propre père. Au demeurant, s’il jugeait sa collaboratrice trop immature, l’employeur aurait dû non seulement renoncer à lui confier de nouveaux patients, mais aussi lui retirer ceux qu’elle suivait déjà, ce qu’il n’avait pas fait.»  

 Das Bundesgericht hielt fest, dass der Arbeitgeber zu Unrecht glaubte, absolute Macht über das Einkommen der Arbeitnehmerin ausüben zu können, als er ihr keine neuen Patienten mehr zuwies. Die Arbeitnehmerin könne demnach die Differenz zum Lohn fordern, den sie erhalten hätte, hätte man ihr Patienten noch in dem Umfang zugewiesen, wie dies vor den Streitigkeiten erfolgt sei.

«En bref, c’est à tort que l’employeur a cru détenir un pouvoir absolu sur le revenu de l’intimée, en cessant dès février 2018 de lui attribuer de nouveaux patients. Et les juges d’appel n’ont pas outrepassé les limites du droit fédéral en exigeant qu’il verse la différence avec le salaire que l’employée aurait dû toucher en se basant sur la période durant laquelle elle avait reçu suffisamment de patients. La méthode de calcul appliquée n’est pas contestée.»

 

Die Missbräuchlichkeit der Kündigung

Das Bundesgericht stellte zudem die Missbräuchlichkeit der Kündigung fest. Zunächst hatte der Arbeitgeber behauptet, er habe sich von seiner Mitarbeiterin getrennt, weil sie nicht mehr für die Stelle geeignet gewesen wäre. Zudem warf er ihr in der Berufung vor, dass sie sich bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche von ihrem Vater, einem ehemaligen Bundesrichter, habe beraten lassen.

«Dans un premier temps, l’employeur avait soutenu s’être séparé de sa collaboratrice parce qu’elle ne correspondait plus au poste. Dans son appel, il lui reprochait d’avoir recouru aux conseils de son père, juriste de profession et juge fédéral suppléant, pour faire valoir ses prétentions.» 

Das Gericht entgegnete, es sei vielmehr ein Zeichen von Reife, wenn man sich in einer Sache, die man nicht beherrscht, beraten lasse – und sei es vom eigenen Vater. Die Arbeitnehmerin habe sich ernsthaft über ihre Rechte aus dem Arbeitsvertrag informiert, bevor sie ihre Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber geltend gemacht hatte. Es habe sich vorliegend also um eine Vergeltungskündigung gehandelt, welche unter Art. 336 Abs. 1 lit. d OR fällt.

«Le fait de prendre conseil dans une matière que l’on ne maîtrise pas – fût-ce auprès de son père – était, au contraire, un signe de maturité. L’employée avait simplement révélé, en toute transparence, qu’elle s’était renseignée sérieusement sur ses droits avant de conclure que la proposition de l’employeur n’était pas conforme et devait être rediscutée. En réalité, le licenciement était un congé-représailles visé par l’art. 336 al. 1 let. d CO.» 

 Demnach ist eine Kündigung missbräuchlich, wenn sie aufgrund einer nach Treu und Glauben erfolgten Geltendmachung eigener Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag erfolgt. Dabei ist es unerheblich ob dieser Anspruch tatsächlich besteht. Es genügt, dass derjenige, der ihn geltend macht, in gutem Glauben davon ausgehen kann, dass er begründet ist. Der gute Glaube wird wiederum vermutet (Art. 3 Abs. 1 ZGB).

«La règle précitée déclare abusif le congé donné par une partie (ici l’employeur) parce que l’autre partie (en l’occurrence l’employée) fait valoir de bonne foi des prétentions résultant du contrat de travail. On parle à cet égard de congé-représailles.  

Pour retenir une telle hypothèse, il faut déterminer le motif réel du congé – opération qui relève du fait. Il importe peu que la prétention existe ou non. Il suffit que celui qui l’invoque puisse de bonne foi penser qu’elle est fondée […]. La bonne foi est présumée (art. 3 al. 1 CC). Les prétentions émises doivent avoir joué un rôle causal dans la décision de licencier.»

Das Bundesgericht bestätigte demnach die Erkenntnis der Vorinstanz, wonach die von der Arbeitnehmerin geltend gemachten Ansprüche der eigentliche Grund für die Kündigung waren und es sich bei letzterer um eine Vergeltungsmassnahme gehandelt haben muss.

«Dans le passage résumé ci-dessus, la Cour d’appel a laissé entendre qu’elle voyait dans les prétentions émises par l’employée la cause véritable du congé. S’il devait subsister un léger doute quant au motif retenu, il est définitivement levé à lecture d’un autre chapitre, dans lequel la Cour a clairement interprété le refus de fournir des nouveaux clients comme une „mesure de rétorsion face à une employée qui tent[ait] de faire valoir ses droits“.»

 

Siehe hierzu auch (Auswahl):

 

Autoren: Nicolas Facincani / Louis Delfosse

 

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