Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die an ihrem Arbeitsplatz Unregelmässigkeiten feststellen, sehen sich mit divergierenden Interessen konfrontiert: Im Hinblick auf eine einwandfreie Abwicklung der Geschäftstätigkeit der Organisation wie auch angesichts des öffentlichen Interesses an der Einhaltung der Gesetze und der öffentlichen Debatte in der Demokratie sowie aus ethischen Überlegungen ist es notwendig, dass festgestellte Unregelmässigkeiten gemeldet werden. Doch durch eine solche Meldung an die Behörden und insbesondere an die Medien werden die Interessen des Arbeitgebers unter Umständen in schwerwiegender Weise beeinträchtigt. Ausserdem wird durch die Meldung die Persönlichkeit der verdächtigten Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen verletzt. Die Meldung einer Unregelmässigkeit kann auch zu Spannungen und Konflikten am Arbeitsplatz führen.
Gemäss dem geltenden Recht in der Schweiz hängt die Rechtmässigkeit der Meldung einer Unregelmässigkeit von einer Abwägung zwischen diesen verschiedenen Interessen ab. Diese Abwägung wird gegenwärtig von der Rechtsprechung vorgenommen. Eine Meldung ausserhalb der Organisation fällt in den Rahmen der den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen eingeräumten Meinungsäusserungsfreiheit. Diese gilt indessen nicht absolut. Sie muss vielmehr gegen die vertraglichen Verpflichtungen des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin und gegen die Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitgebers abgewogen werden. Die Treuepflicht und die Schweigepflicht des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin wie auch die Geheimhaltungspflicht, deren Verletzung durch das Strafrecht sanktioniert wird, stehen einer Meldung ausserhalb der Organisation entgegen. Diese Pflichten gelten jedoch ebenfalls nicht absolut.
Für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich an die vorgegebenen Voraussetzungen für eine Meldung halten, dürfen sich daraus keine Nachteile ergeben. Der Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ergibt sich derzeit aus den allgemeinen Bestimmungen des Arbeitsrechts. Insbesondere eine nach einer rechtmässigen Meldung ausgesprochene Kündigung wird als missbräuchlich beurteilt. Eine missbräuchliche Kündigung bleibt gültig, doch der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin hat Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe von maximal sechs Monatslöhnen.
EU-Whistleblower-Richtline
Am 16. Dezember 2019 tratt die EU-Richtlinie 2019/1937 zum Schutz von Hinweisgebern des EU-Parlaments in Kraft.
Ziele der Richtlinie sind:
- Verstösse aufzudecken und zu unterbinden,
- die Rechtsdurchsetzung zu verbessern, indem effektive, vertrauliche und sichere Meldekanäle eingerichtet und Hinweisgeber wirksam vor Repressalien geschützt
- dass Hinweisgeber weder zivil-, straf- oder verwaltungsrechtlich noch in Bezug auf ihre Beschäftigung haftbar gemacht werden können.
Umsetzungsfristen
Die Richtlinie ist gemäss Artikel 26 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2019/1937 in den Hauptpunkten bis zum 17. Dezember 2021 von den Unionsmitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen. In Bezug auf die Schaffung der betriebsinternen Meldekanäle nach Artikel 8 Absatz 3 der Richtlinie 2019/1937 hinsichtlich juristischer Personen mit 50 bis 249 Arbeitnehmern, sind diese Bestimmungen nach Artikel 26 Abs. 1 der Richtlinie bis zum 17. Dezember 2023 in Kraft zu setzen.
Wesentlicher Inhalt
Die EU-weiten Vorschriften zum Schutz von Hinweisgebern decken ein breites Spektrum an EU-Rechtsbereichen ab, unter anderem die Geldwäschebekämpfung, die Unternehmensbesteuerung, den Datenschutz, den Schutz der finanziellen Interessen der Union, die Lebensmittel- und Produktsicherheit sowie den Umweltschutz und die nukleare Sicherheit. Überdies steht es den Mitgliedstaaten frei, diese Vorschriften auf andere Bereiche auszuweiten. Inhaltlich wird etwa folgendes verlangt:
- Klare Meldeverfahren und Pflichten für Arbeitgeber: Mit den neuen Vorschriften wird ein System von sicheren Kanälen für die Meldung von Missständen sowohl innerhalb einer Organisation als auch an Behörden geschaffen.
- Unter dem Begriff Hinweisgeber sind nicht nur gegenwärtige Angestellte der von betreffenden Unternehmen zu verstehen. Als Hinweisgeber im Sinne von Art. 4 der EU-Richtlinie gelten vielmehr auch ehemalige Mitarbeitende, Selbstständige, Berater, Bewerber, Freiwillige, etc. Der Schutz von solchen Hinweisgebern muss sich dabei mindestens in Bezug auf das Melden von Missständen in Bezug auf das EU-Recht ergeben.
- Vermeidung von Vergeltungsmaßnahmen und wirksamer Schutz: Die Vorschriften schützen Hinweisgeber vor Kündigungen, Zurückstufungen und anderen Repressalien. Ferner werden die nationalen Behörden verpflichtet, die Bürgerinnen und Bürger über die Verfahren zur Meldung von Missständen und über den bestehenden Schutz zu informieren. Darüber hinaus werden Hinweisgeber in Gerichtsverfahren geschützt.
Schweizer Unternehmen mit Geschäftstätigkeit bzw. geschäftlichem Bezug zum EU-Raum sind aber dem Risiko ausgesetzt, in den Anwendungsbereich der EU-Richtlinie zu fallen. Die EU-Richtlinie ist insbesondere für Schweizer Unternehmen relevant, die über Geschäftsniederlassungen in der EU verfügen, die im Grundsatz mindestens 50 Mitarbeitende beschäftigen. Die EU-Richtlinie ist auch anwendbar auf Hinweisgeber, die zwar nicht an einem EU-Standort eines in der EU tätigen Konzerns angestellt sind, die gemeldeten Missstände bzw. das kritisierte Fehlverhalten aber einen Unternehmensstandort in der EU betreffen.
Autor: Nicolas Facincani
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