An seiner Sitzung vom 15. Dezember 2023 hat der Bundesrat die Vernehmlassung zur Anpassung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) eröffnet. Das Ausländer- und Integrationsgesetz muss in verschiedenen Teilbereichen angepasst werden, die thematisch breit gestreut sind. Nebst kleineren, zum Teil rein sprachlichen Anpassungen, sieht die Vorlage verschiedene Änderungen vor.
Wechsel von selbständiger zu unselbständiger Tätigkeit
Die Vorlage sieht die Aufhebung der Bewilligungspflicht für den Wechsel von einer unselbstständigen zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit von Inhaberinnen und Inhabern einer Aufenthaltsbewilligung vor; diese Änderung soll aufgrund eines entsprechenden Beschlusses des Bundesrats vom 4. März 2022 zu einem Postulat erfolgen.
Erläuterungen: Am 4. März 2022 hat der Bundesrat den Bericht in Erfüllung des Postulats «Für eine Zuwanderungsregelung, die den Bedürfnissen der Schweiz entspricht» (Bericht des Bundesrates vom 4. März 2022 in Erfüllung des Postulats 19.3651 Nantermod vom 19. Juni 2019) verabschiedet und eine Reihe von Massnahmen zur Optimierung der Zulassung von qualifizierten Erwerbstätigen aus Drittstaaten beschlossen. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) wurde unter anderem beauftragt, dem Bundesrat eine Botschaft vorzulegen, welche die rechtlichen Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligungspflicht beim Wechsel von einer unselbstständigen zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit von Inhaberinnen und Inhabern einer Aufenthaltsbewilligung schafft (Art. 38 Abs. 2–4 VE-AIG).
Lebensmittelpunkt in der Schweiz
Sie sieht vor, dass bei der Erteilung einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung der Lebensmittelpunkt in der Schweiz liegen muss und dass die Bewilligung bei dessen Verlegung ins Ausland erlischt. Damit wird die Motion 21.4076 Marchesi «Aufenthaltsbewilligungen für Ausländerinnen und Ausländer. Der Grundsatz des Lebensmittelpunkts soll wieder eindeutig anwendbar sein» umgesetzt.
Erläuterungen: Nationalrat Piero Marchesi hat am 23. September 2021 die Motion 21.4076 «Aufenthaltsbewilligungen für Ausländerinnen und Ausländer. Der Grundsatz des Lebensmittelpunkts soll wieder eindeutig anwendbar sein» eingereicht. Die Motion wird damit begründet, dass aufgrund der jüngeren Rechtsprechung des Bundesgerichts das Konzept des «Lebensmittelpunkts» als Beurteilungskriterium bei der Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen aufgeweicht worden sei. Gemäss dieser setze die Aufrechterhaltung einer Aufenthaltsbewilligung zwar eine minimale Präsenz in der Schweiz voraus, der Gesetzgeber habe für diese Definition jedoch auf eine Anknüpfung an das Kriterium des Lebensmittelpunkts oder des Wohnsitzes verzichtet. Die Motion beauftragt den Bundesrat, die rechtlichen Rahmenbedingungen dahingehend anzupassen, dass der Grundsatz des Lebensmittelpunkts wieder eindeutig anwendbar ist. Der Bundesrat hat die Annahme der Motion beantragt. Die Motion 21.4076 Marchesi wurde am 18. März 2022 vom Nationalrat und am 14. Dezember 2022 vom Ständerat angenommen (Art. 33 Abs. 1bis und 2, 34 Abs. 1 und 2 Bst. a–d und 61 Abs. 1 Bst. abis VE-AIG).
Publikation von Verwaltungssanktionen des SEM gegen Luftverkehrsunternehmen
Die Vorlage schafft die rechtliche Grundlage für die Publikation der Verwaltungssanktionen des Staatssekretariats für Migration (SEM) gegen Luftverkehrsunternehmen. Zudem soll deren Betreuungspflicht ausgeweitet werden. Zudem soll die Betreuungspflicht der Luftverkehrsunternehmen ausgeweitet werden. Sie haben künftig auch für Reisende, denen die Weiterreise durch die internationalen Transitzonen verweigert wird, eine Betreuungspflicht.
Erläuterungen: Der Bundesrat hat in seinem Bericht über pekuniäre Verwaltungssanktionen (Bericht des Bundesrates vom 23. Februar 2022 in Erfüllung des Postulates 18.4100 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats vom 1. November 2018, BBl 2022 776) festgehalten, dass eine gesetzliche Grundlage im AIG für die Publikation von Verfügungen gegenüber Luftverkehrsunternehmen geschaffen werden soll. Zudem sollen die Betreuungspflichten der Luftverkehrsunternehmen auf die von ihnen beförderten Personen erweitert werden, denen die Weiterreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen verweigert wird (Art. 93 Abs. 1 und 122c Abs. 4 VE-AIG).
Anwesenheitspflicht in der zugewiesenen Unterkunft
Mit der Vorlage soll im Rahmen des Wegweisungsvollzugs eine rechtliche Grundlage für die Anwesenheitspflicht in der zugewiesenen Unterkunft geschaffen werden. Aufgrund eines Bundesgerichtsentscheids soll zudem die Haftdauer der sogenannten «Dublin-Renitenzhaft» eingeschränkt werden.
Erläuterungen: In seinem Bericht über die Einführung elektronischer Fussfesseln im Ausländer- und Integrationsgesetz (Bericht des Bundesrates vom 16. Dezember 2022 in Erfüllung des Postulates 20.4265 der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 19. Oktober 2020, Einführung elektronischer Fussfesseln im Ausländer- und Integrationsgesetz) kommt der Bundesrat zum Schluss, dass kein Bedarf besteht, eine Gesetzesbestimmung zu einem «Electronic Monitoring» im AIG einzuführen. Grundsätzlich erachtet er die bereits heute im AIG vorhandenen Alternativen zur Administrativhaft als zielführender und zweckmässiger. Um den Handlungsspielraum der zuständigen kantonalen Behörden bei den Vollzugsfällen zu vergrössern, soll jedoch eine gesetzliche Grundlage für eine Anwesenheitspflicht in kantonalen Unterbringungsstrukturen geschaffen werden. Diese Massnahme entspricht den Vorschlägen der Kantone im Rahmen der Ausarbeitung des Postulatsberichts (Art. 73a VE-AIG). Aufgrund eines Bundesgerichtsentscheids soll zudem die Bestimmung im AIG über die sogenannte «Dublin-Renitenzhaft» angepasst werden. Die Inhaftierung soll spätestens sechs Wochen nach Haftanordnung beendet werden (Art. 76a Abs. 4 VE-AIG).
Erweiterte Zugriffsrechte im Vollzug
Für die kantonalen Justizvollzugsbehörden soll eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, damit diese bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben auf besonders schützenswerte Daten im Zentralen Migrationsinformationssystem (ZEMIS) zugreifen können. Weiter sollen zusätzliche Mitarbeitende des SEM, die zuständigen Abteilungen des Bundesverwaltungsgerichts und die schweizerischen Auslandvertretungen und Missionen Zugriff auf die benötigten Personendaten im Informationssystem für die Rückkehr (eRetour) des SEM erhalten.
Erläuterungen: Im Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das Informationssystem für den Ausländer- und den Asylbereich (BGIAA) soll die rechtliche Grundlage dafür geschaffen werden, dass die kantonalen Justizvollzugsbehörden auch auf die besonders schützenswerten Daten im Zentralen Migrationsinformationssystem (ZEMIS) zugreifen können, die sie im Rahmen des Vollzugs von strafrechtlichen Urteilen der kantonalen Strafgerichte und der Strafbehörden des Bundes benötigen (Art. 9 Abs. 1 Bst. q und 2 Bst. m VE-BGIAA).
Weitere Mitarbeitende der zuständigen Einheiten des SEM, die zuständigen Abteilungen des Bundesverwaltungsgerichts und die schweizerischen Auslandvertretungen und Missionen sollen Zugriff auf bestimmte Personendaten aus dem Informationssystem für die Rückkehr (eRetour) des SEM erhalten, die sie für ihre gesetzlichen Aufgaben benötigen (Art. 109h Bst. a Ziff. 3 und h und i VE-AIG).
Weitere Änderungen
Die Vorlage betrifft auch formelle und redaktionelle Änderungen. Sie betreffen die Zuständigkeit für die Unterstellung unter die Stellenmeldepflicht, die Weitergabe medizinischer Daten zur Beurteilung der Transportfähigkeit, die Voraussetzungen für die Verfügung eines Einreiseverbots, die Abschaffung der Sonderabgabe aus Erwerbseinkommen und die Neugestaltung des Systems der Bundessubventionierung der kantonalen Sozialhilfekosten für Personen des Asylbereichs.
Erläuterungen: Die formelle Zuständigkeit für den Entscheid über Anträge der Kantone zur Unterstellung bestimmter Berufsgruppen unter die Stellenmeldepflicht ist gemäss der bisherigen Praxis und in Einklang mit Artikel 53e Absatz 1 der Arbeitsvermittlungsverordnung vom 16. Januar 1991 (AVV) angepasst worden. Demnach ist das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und nicht der Bundesrat dafür zuständig (Art. 21a Abs. 7 VE-AIG).
Im AIG soll ein Verweis angepasst werden, da der entsprechende Artikel (Art. 85 AIG) in der Zwischenzeit geändert wurde (Art. 30 Abs. 1 Bst. l VE-AIG). Im Rahmen der Verordnungsänderungen zur Beurteilung der Transportfähigkeit in der Verordnung vom 11. August 1999 über den Vollzug der Weg- und Ausweisung sowie der Landesverweisung ausländischer Personen (VVWAL) wurden inhaltliche und redaktionelle Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit einer Bestimmung im AIG festgestellt, die behoben werden sollen (Art. 71b VE-AIG).
Gemäss dem Wortlaut des am 22. November 2022 in Kraft getretenen Artikels 67 Absatz 1 AIG verfügt das SEM Einreiseverbote gegenüber weggewiesenen Ausländerinnen und Ausländern. Die Beschränkung auf weggewiesene Personen entspricht jedoch nicht der Praxis, da Einreiseverbote insbesondere auch gegenüber Personen erforderlich sein können, die sich nicht in der Schweiz aufhalten und daher auch nicht weggewiesen werden müssen. Diese unbeabsichtigte Beschränkung soll rückgängig gemacht werden (Art. 67 Abs. 1 VE-AIG).
Aufgrund der Abschaffung der Sonderabgabe aus Erwerbseinkommen am 1. Januar 2018 und der Neugestaltung des Systems der Bundessubventionierung der kantonalen Sozialhilfekosten für Personen des Asylbereichs ab Januar 2023 soll eine Anpassung im Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) vorgenommen werden (Art. 93bis Abs. 2 und 2bis VE-AHVG).
Autor: Nicolas Facincani
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