Im Entscheid vom 30. April 2024 (4A_191/2022) befasste sich das Bundesgericht mit der Thematik der fristlosen Kündigung: Der Arbeitnehmer sagte in einem Lohnforderungsprozess von anderen zwei Arbeitnehmer gegen seine Arbeitgeberin aus. Dies erachtete die Arbeitgeberin als grobe Treuepflichtverletzung und sprach die fristlose Kündigung aus. Der Arbeitnehmer forderte daraufhin drei Monatslöhne als Entschädigung. Widerklageweise klagte die Arbeitgeberin eine Entschädigung für den verlorenen Zivilprozess gegen die anderen zwei Arbeitnehmer. Die Arbeitgeberin unterlag auf allen Instanzen, wie sich den nachfolgenden Ausführungen entnehmen lässt. Die ungerechtfertigte fristlose Kündigung wurde bejaht und dem Arbeitnehmer eine Entschädigung von drei Monatslöhnen zugesprochen. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

 

Sachverhalt

B wurde im Oktober 2011 von der C.AG in der Funktion als Geschäftsführer und Assistenz der Geschäftsleitung angestellt. Im Jahr 2018 wurde – bedingt durch Umstrukturierung innerhalb der Gruppe – der Arbeitsvertrag mit B (nachfolgend Arbeitnehmer) von der C. AG auf die A. AG (nachfolgend: Arbeitgeberin) übertragen. Der Arbeitsvertrag zwischen dem Arbeitnehmer und der Arbeitgeberin vom 22. Februar 2019 sah ein Bruttomonatsgehalt von CHF 6’782.65 mit einem Beschäftigungsgrad von 70 % vor.

Der Arbeitnehmer machte am 13. März 2019 vor dem Pretore des Bezirks Lugano anlässlich zweier Klagen von ehemaligen Arbeitnehmern in einer Lohnforderungsprozess Zeugenaussagen (zu Ungunsten der Arbeitgeberin). Am darauffolgenden 16. März übermittelte der Arbeitnehmer dem Prätor freiwillig Unterlagen, um den Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu bestätigen. Am 21. März 2019 erhielt die A. AG von dieser Übermittlung Wind und kündigte dem Arbeitnehmer am 25. März 2019 fristlos mit folgender Begründung: „Aufgrund ihrer Aussagen vom 13. März 2019 anlässlich ihrer Zeugeneinvernahme in den Rechtssachen SE.2018.334 und OR.2018.178 und der anschliessenden Übersendung von Firmenunterlagen zuhanden des Amtsgerichts Lugano, am 16. März 2019, kündigt A. AG ihren bestehenden Arbeitsvertrag mit sofortiger Wirkung. Dies, weil sie ihre Treue- und Verschwiegenheitspflicht gegenüber A. AG bzw. der C. AG verletzt haben, indem sie vertrauliche und privilegierte Geschäftsinformationen an Dritte weitergegeben und zudem den CEO Dr. D. gegenüber Dritten diffamiert hat“ (Orignalversion: „A motivo delle sue dichiarazioni rilasciate in data 13 marzo 2019 durante la sua audizione testimoniale nella causa SE.2018.334 e OR.2018.178 e al successivo invio di documentazione aziendale all’attenzione della Pretura di Lugano, Sezione 1, in data 16 marzo 2019, la A. AG le disdice il contratto di lavoro in essere con effetto immediato. Ciò poiché lei ha gravemente violato il suo obbligo di fedeltà e riservatezza nei confronti della A. AG rispettivamente della C. AG, divulgando informazioni aziendali riservate e confidenziali a terzi e ha inoltre diffamato il CEO dott. D. nei confronti di terzi„).

Am Folgetag focht die Mitarbeiterin die Kündigung an, bestritt, dass ein Grund für eine solche Kündigung vorliege und erklärte sich bereit, die Arbeit wieder aufzunehmen. Mit Klageschrift vom 2. Oktober 2019 verklagte die Arbeitnehmerin die Arbeitgeberin und forderte CHF 7’952.45 (brutto) als Lohn und CHF 20’347.95 (netto) als Entschädigung für die ungerechtfertigte fristlose Kündigung. Die Arbeitgeberin beantragte im Gegenteil, den Kläger zur Zahlung von CHF 15’000 als Entschädigung für die Kosten des Zivil- und Strafverfahrens zu verurteilen. Mit Urteil vom 20. August 2021 gab der Pretore dem Gesuch vollumfänglich statt und wies die Widerklage ab.

Die Zweittinstanz wies die Beschwerde der Arbeitgeberin ab. Das Kantonsgericht vertrat die Auffassung, dass die Zeugenaussage des Arbeitnehmers „der Auslöser“ für die fristlose Entlassung war und erachtete daher die fristlose Kündigung 12 Tage später als zu spät.

Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 5. Mai 2022 beantragt die A. AG nach Erteilung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde beim Bundesgericht die Aufhebung des kantonalen Urteils mit der Folge, dass die Klage abgewiesen und die Widerklage gutgeheissen wird. Sie rügt eine unrichtige Tatsachenfeststellung bezüglich der dem Arbeitnehmer vorgeworfenen Vertragsverletzungen und macht geltend, die fristlose Kündigung sei rechtzeitig erfolgt, weil sie zwei Arbeitstage nach Kenntnisnahme der Übersendung der Unterlagen an den Pretore erfolgt sei.

 

Generelle Erwägungen

Das Bundesgericht macht zunächst generelle Ausführungen zur fristlosen Kündigung, insbesondere, dass eine solche jederzeit aus wichtigen Gründen von beiden Parteien erfolgen kann. Dabei muss eine Fortsetzung des Vertragsverhältnisses unzumutbar sein, weshalb nach ständiger Rechtsprechung eine restriktive Auslegung an den Tag gelegt wird und nur besonders schwere Verfehlungen eine solche Massnahme rechtfertigen können.

Unter einem Fehlverhalten des Arbeitnehmers wird im Allgemeinen die Verletzung einer Pflicht aus dem Arbeitsvertrag verstanden, aber auch andere Ereignisse können in Betracht kommen. Ein solches Versäumnis muss objektiv geeignet sein, das wesentliche Vertrauensverhältnis des Arbeitsvertrags zu zerstören oder zumindest so tiefgreifend zu beeinträchtigen, dass die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht verlangt werden kann, und muss diese Folge tatsächlich verursacht haben (BGE 142 III 579 E. 4.2). Liegt ein wichtiger Grund vor, so ist die fristlose Kündigung unter Androhung der Verwirkung unverzüglich auszusprechen. Wird sie verzögert, erweckt die Partei den Eindruck, sie habe auf die fristlose Kündigung verzichtet oder sie könne sich mit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum ordentlichen Ablauf des Vertrages begnügen (BGE 138 I 113, E. 6.3.1). Im Allgemeinen hält die Rechtsprechung eine Bedenkzeit von zwei bis drei Arbeitstagen und eine Rechtsbelehrung für ausreichend, wobei eine Fristverlängerung, dann zulässig ist, wenn sie durch die praktischen Erfordernisse des täglichen Lebens und des Geschäftslebens gerechtfertigt ist. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn die Entscheidung von einem mehrgliedrigen Organ einer juristischen Person zu treffen ist oder wenn der Vertreter des Arbeitnehmers angehört werden soll (BGE 138 I 113 E. 6.3.2).

 

Erwägungen im konkreten Fall – Zur fristlosen Kündigung per se

Vorliegend stellte die Zweitinstanz fest, dass die ungünstige Aussage des Arbeitnehmers vom 13. März 2019 in dem von zwei anderen ehemaligen Arbeitnehmern gegen die C. AG, „der Auslöser“ für die fristlose Entlassung war. Die Äusserungen seien zudem als erster Grund in dem entsprechenden Schreiben genannt worden. Aus diesem Grund erachtete es die fristlose Kündigung, die 12 Tage nach der Anhörung beim Pretore erfolgte, als zu spät. Andererseits stellte sich die Arbeitgeberin auf den Standpunkt, dass die Kündigung rechtzeitig ausgesprochen worden sei, da sie auf die spätere freiwillige Übersendung der Unterlagen an den Pretore zurückzuführen sei, mithin also vom 21. März 2019 auszugehen sei. Die am Montag, dem 25. März 2019, ausgesprochene Kündigung sei daher rechtzeitig, da sie nur zwei Arbeitstage, nachdem der Arbeitnehmer die Unterlagen dem Pretore zustellte, Kenntnis erhielt.

Gemäss Bundesgericht ist das Kantonsgericht bei diesem Sachverhalt nicht in Willkür verfallen, indem es feststellte, dass die Frist für die rechtzeitige Kündigung mit der Zeugenaussage des Arbeitnehmers zu laufen begann. Denn wie sich auch aus der vorliegenden Klageschrift ergab, wirft die Arbeitgeberin im Wesentlichen vor, der Arbeitnehmer habe die Gesellschaft in den von zwei ehemaligen Arbeitnehmern gegen sie geführten Rechtsstreit nicht unterstützt. Die spontane Übermittlung der Unterlagen an das erstinstanzliche Gericht ist nichts anderes als eine weitere Bestätigung für die fehlende Unterstützung der Verfahrensposition. Da auch die Arbeitgeberin nicht behauptet hat, dass unter den konkreten Umständen ein Zeitablauf von 12 Tagen die Bedingung der Rechtzeitigkeit erfüllt, ist die fristlose Kündigung offenkundig verspätet: „In concreto la Corte cantonale non è caduta nell’arbitrio ritenendo che il termine per determinare la tempestività della disdetta è iniziato a decorrere dalla deposizione dell’opponente. Infatti, come peraltro emerge pure chiaramente dal presente ricorso, la ricorrente rimprovera in sostanza all’opponente di non avere assecondato C. AG nella causa intentatale da due ex dipendenti. Tale circostanza doveva però già essere stata recepita dopo l’audizione testimoniale in cui l’opponente ha, per riprendere la terminologia utilizzata nel ricorso, “ smentito la tesi sostenuta dalla C. AG nelle cause in questione „. La trasmissione spontanea della documentazione al giudice di primo grado non è altro che un’ulteriore conferma del mancato sostegno della posizione processuale. Ora, atteso che nemmeno la ricorrente sostiene – a ragione – che nelle circostanze concrete un lasso di tempo di 12 giorni soddisfi la condizione della tempestività prevista dalla citata giurisprudenza, il licenziamento in tronco si palesa tardivo“ (BGer 4A_191/2022, Urteil des Bundesgerichts vom 30. April 2024, E. 3.3).

 

Erwägungen im konkreten Fall – Zur Entschädigung

Betreffend die durch das Kantonsgericht festgesetzte Entschädigung für ungerechtfertigte Entlassung nach Art. 337c Abs. 3 OR in der Höhe von drei Monatslöhnen, stellte das Kantonsgericht fest, dass die Beschwerde keine konkreten Einwände enthielt, und vertrat die Auffassung, dass angesichts des weiten Ermessensspielraums des Richters kein Grund bestehe, von der in erster Instanz festgesetzten Entschädigung abzuweichen.

Nach Ansicht des Bundesgerichts stand den Feststellungen, dass der Pretore die Kündigungsentschädigung mit dem Alter des Arbeitnehmers und der Dauer des Arbeitsverhältnisses begründete, nichts entgegen. Die Arbeitgeberin ignorierte sodann die – zustimmende – Erwägung des Kantonsgerichts, dass die Übermittlung der Dokumente an den Pretore keine schwerwiegende Verletzung der Vertraulichkeits- und Sorgfaltspflichten darstelle, weil sie im Rahmen eines Zivilverfahrens an eine zum Amtsgeheimnis verpflichtete Behörde erfolgt sei. In Anbetracht der Tatsache, dass die Arbeitgeberin die anderen behaupteten Vertragsverletzungen nicht nachgewiesen hatte, war die Beschwerde daher auch insoweit zurückzuweisen, als es sich gegen die Gewährung einer Entlassungsentschädigung wandte: „Il Pretore infatti, dopo aver osservato che alle parti non poteva essere rimproverata una colpa grave, ha giustificato l’indennità per il licenziamento con l’età della lavoratrice e la durata del rapporto di lavoro. La ricorrente ignora poi la – condivisibile – considerazione della Corte cantonale secondo cui la trasmissione della documentazione al Pretore, seppure irrita, non costituiva una grave violazione degli obblighi di riservatezza e diligenza, perché è avvenuta nell’ambito di un procedimento civile a un’autorità tenuta al segreto d’ufficio, che ha estromesso i documenti dagli atti. Ricordato che la ricorrente non è riuscita a provare le altre pretese violazioni contrattuali (sopra, consid. 2.2), il ricorso va pertanto disatteso anche nella misura in cui contesta l’attribuzione dell’indennità per licenziamento ingiustificato.“ (BGer 4A_191/2022, Urteil des Bundesgerichts vom 30. April 2024, E.4.3)

 

Erwägungen im konkreten Fall – Zur Widerklage der Arbeitgeberin

Die Arbeitgeberin machte sodann drei Vertragsverletzungen des Arbeitnehmers geltend, gestützt auf welchen sie eine Entschädigung einklagte. Insbesondere brachte sie die Nichtvorlage sämtlicher Unterlagen bei den Vorbereitungshandlungen der Prozesse, die Nichtaufklärung bei der Zeugenvernehmung und die Übersendung von Firmenunterlagen an den Prätor als Vertragsverletzungen vor. Diese Rüge erwiesen sich als unbegründet „Infatti, come visto in precedenza, le – asserite – prime due violazioni contrattuali non sono state dimostrate e, contrariamente a quanto apoditticamente affermato nel ricorso, non è affatto ravvisabile in che modo il terzo – pacifico – rimprovero possa avere causato le spese di cui viene chiesto il risarcimento.“ (BGer 4A_191/2022, Urteil des Bundesgerichts vom 30. April 2024, E.5.3).

Zusammenfassend hielt das Bundesgericht an der ständigen Rechtsprechung fest und erwog, dass 12 Tage nach dem Vorliegen des eigentlichen Kündigungsgrunds eine fristlose Entlassung zu spät ist, mithin ungerechtfertigt und eine Entschädigung – nach richterlichem Ermessen – nach sich zieht. So stellten vorliegend die nachträglich eingereichten Unterlagen lediglich eine Bestätigung der Zeugenaussage dar. Wenn eine fristlose Kündigung zulässig hätte sein sollen, so hätte ein solche direkt nach den Zeugenaussagen ausgesprochen werden müssen. Dies war hier nicht der Fall. Die Entschädigung von drei Monatslöhne wurde überdies angesichts des Alters des Arbeitnehmers und der Dauer des Arbeitsverhältnisses als angemessen erachtet.

 

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Autoren: Nicolas Facincani Matteo Ritzinger

 

 

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