Der Bundesrat wurde von der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates (APK-NR) beauftragt, die wichtigsten Unterschiede zwischen dem Schweizer Recht und dem Recht der Europäischen Union (EU) im Bereich des Arbeitnehmerschutzes zu prüfen und einen Bericht dazu vorzulegen, der aufzeigt, welche Anpassungen im Schweizer Recht notwendig wären, wenn man es an das europäische Recht angleichen wollte. Das Postulat listete 12 Rechtstexte der EU auf, die untersucht und mit dem schweizerischen Recht verglichen werden sollten. Die Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung wurde zur Liste der zu analysierenden Rechtstexte hinzugefügt. Der Bereich des Arbeitnehmerschutzes wurde folglich durch die Liste der im Postulat genannten Rechtstexte eingeschränkt. Der Bestand der europäischen Richtlinien und der anderen Instrumente, die die Sozialpolitik der Europäischen Union definieren (sozialer Besitzstand der EU), umfasst zahlreiche weitere Instrumente, die sich auf den Arbeitnehmerschutz auswirken, die aber im Rahmen der mit dem Postulat verbundenen Arbeiten nicht untersucht werden. Am 4. September 2024 hat der Bundesgericht den entsprechenden Bericht veröffentlich, der nachfolgend im Wesentlichen wiedergegeben wird.
Ausgangslage
Nach der Ablehnung des EWR-Abkommens im Jahr 1992 hat die Schweiz gewisse Teile ihres Arbeitsrechts autonom an das EU-Recht angepasst. Das EU-Recht hat somit die Entwicklung des Schweizer Arbeitsrechts beeinflusst, insbesondere in Bezug auf die Rechte der Arbeitnehmenden bei Betriebsübergängen und Massenentlassungen sowie in gewissem Masse mit Blick auf die Rechte der Arbeitnehmenden zur Information und Konsultation. Das Arbeitsrecht der EU hat sich in der Folge weiterentwickelt. Angetrieben durch die Europäische Säule sozialer Rechte von 2017126 hat die EU zuletzt besonders aktiv den Bestand der europäischen Richtlinien und der anderen Instrumente verstärkt, die die Sozialpolitik der EU definieren (sozialer Besitzstand der EU). In der jüngeren Vergangenheit haben Richtlinien den Arbeitnehmenden individuelle Arbeitnehmerrechte gewährt, insbesondere die Richtlinie (EU) 2019/1152 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union sowie die Richtlinie (EU) 2019/1158 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige.
Obwohl die Schweiz nicht verpflichtet ist, das EU-Recht zu übernehmen, werden diese Entwicklungen aufmerksam verfolgt und berücksichtigt, soweit sie zur Erreichung der Ziele der Schweiz, insbesondere in den Bereichen Arbeitsmarkt und Soziales, beitragen. Im Rahmen der sektoriellen Abkommen mit der EU ist kein Einbezug der Schweiz in die europäische Säule sozialer Rechte vorgesehen. Die überprüften Rechtsakte sind auch nicht Gegenstand der laufenden Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Hingegen strebt der Bundesrat in den aktuellen Verhandlungen eine Angleichung des Rechts von entsandten Arbeitnehmenden gemäss Anwendungsbereich des Personenfreizügigkeitsabkommens (FZA) an das in diesem Bereich geltende EU-Recht an. Damit sollen die Lohn- und Arbeitsbedingungen von entsandten Arbeitnehmenden unter dauerhaftem Erhalt des aktuellen Schutzniveaus garantiert und Unternehmen nicht einem unlauteren Wettbewerb ausgesetzt werden.
Zusammenfassung der Untersuchung
Der Vergleich der Rechte zeigt, dass der Arbeitnehmerschutz im Schweizer Recht gleichwertig gewährleitet ist wie im entsprechenden EU-Recht. Die festgestellten Unterschiede sind punktuell und betreffen oft Details. Die grössten Abweichungen zwischen dem Schweizer Recht und den EU-Regelungen bestehen hinsichtlich zweier neuerer Richtlinien, nämlich der Richtlinien (EU) 2019/1152 und (EU) 2019/1158. Selbst wenn durch eine Annäherung des Schweizer Rechts an diese EU-Richtlinien die Vorhersehbarkeit des Rechts und die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben verbessert werden könnten, ist die Situation im Bereich Arbeitnehmerschutz insgesamt ausgewogen und es drängt sich keine Anpassung des Schweizer Rechts auf um das gleiche Schutzniveau zu erreichen.
Die Entwicklungen des EU-Rechts werden aufmerksam verfolgt und berücksichtigt, soweit sie zur Erreichung der Ziele der Schweiz, insbesondere in den Bereichen der Arbeitsmarkt und Soziales, beitragen. Im Rahmen der sektoriellen Abkommen mit der EU ist kein Einbezug der Schweiz in die europäische Säule sozialer Rechte vorgesehen. Die überprüften Rechtsakte sind nicht Gegenstand der laufenden Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Hingegen strebt der Bundesrat in den aktuellen Verhandlungen eine Angleichung des Rechts von entsandten Arbeitnehmenden gemäss Anwendungsbereich des Personenfreizügigkeitsabkommens (FZA) an das in diesem Bereich geltende EU-Recht an. Damit sollen die Lohn- und Arbeitsbedingungen von entsandten Arbeitnehmenden unter dauerhaftem Erhalt des aktuellen Schutzniveaus garantiert und Unternehmen nicht einem unlauteren Wettbewerb ausgesetzt werden.
Zudem setzt die Schweiz auf einen gelebten Sozialdialog. Wie bereits in der ersten Antwort des Bundesrates auf das Postulat festgehalten, hat sich dieser Dialog sowohl in Zeiten der Hochkonjunktur wie auch in Zeiten von wirtschaftlicher Abschwächung sehr bewährt, was verschiedene Indikatoren zeigen (Arbeitslosigkeit, Beschäftigung, Lohnentwicklung und Lohnverteilung). Eine einseitige Übernahme dieser Richtlinien würde den Handlungsspielraum der schweizerischen Sozialpartner beschränken ohne Vorteile zu bieten.
Schlussfolgerungen der Untersuchung
Die vergleichende Prüfung hat ergeben, dass eine Reihe von Richtlinien, die grenzüberschreitende Sachverhalte regeln, Regelungen enthalten, die keine Entsprechung im schweizerischen Recht haben, da die Schweiz kein EU-Mitgliedstaat ist und für die von diesen Richtlinien betroffenen Bereiche keine bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU bestehen. Die Analyse des schweizerischen Rechts beschränkte sich daher auf einen Vergleich mit den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die den von den Richtlinien abgedeckten Bereichen entsprechen. Dieses strukturelle Hindernis zeigt sich besonders bei der Analyse der Richtlinie 2001/86/EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer sowie, wenn auch in geringerem Masse, bei der Analyse der Richtlinie (EU) 2017/1132 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts und der Richtlinie 2209/38/EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen.
Bestimmte europäische Rechtstexte im Bereich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsmarktes finden keine Entsprechung im schweizerischen Recht. Trotz dieser Unterschiede hat die Analyse gezeigt, dass die Schweiz über einen rechtlichen Rahmen verfügt, der den Anforderungen dieser Rechtstexte entspricht. Die Empfehlung des Rates zum Thema «Eine Brücke ins Arbeitsleben — Stärkung der Jugendgarantie» (2020/C 372/01), welche die Mitgliedstaaten zur Entwicklung von Programmen zur Jugendbeschäftigung anregt und als Referenz für den Erhalt von EU-Fördermitteln dient, ist nicht bindend, ermöglicht es aber den EU-Institutionen, ihren Standpunkt zu dieser Problematik zu verdeutlichen. Die Analyse der Situation in der Schweiz hat gezeigt, dass die bestehenden Massnahmen in Richtung dieser Empfehlung gehen und selbst darüber hinaus. Was die Richtlinie (EU) 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union betrifft, so finden die Bestimmungen über gesetzliche Mindestlöhne im schweizerischen Recht keine Entsprechung, da es auf Bundesebene keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt. Die Prüfung hat jedoch ergeben, dass die Schweiz die Anforderungen der Richtlinie (EU) 2022/2041 zu erfüllen scheint, insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an die kollektive Aushandlung von Mindestlöhnen. Bei den anderen untersuchten Rechtstexten der EU127 ist das Schweizer Recht in den allermeisten Fällen dem EU-Recht gleichwertig. Das Schweizer Recht enthält ferner eine Reihe von Regeln, die für die Arbeitnehmenden vorteilhafter sind als die in den EU-Richtlinien festgelegten.
Beispielsweise erlaubt das Einverständnis der Arbeitnehmenden allein noch keine Abweichung von den Bestimmungen über die Arbeits- und Ruhezeiten, die Sonntagsarbeit ist aus Gründen des Gesundheitsschutzes wie auch aus sozialen, kulturellen und religiösen Gründen in der Schweiz grundsätzlich verboten und den Arbeitnehmenden steht bereits nach fünfeinhalb Stunden Arbeit eine Pause zu.
Zur Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben sieht das Schweizer Recht die Möglichkeit einer Absenz aus familiären Gründen vor. Urlaub für die Betreuung von Angehörigen wird zudem ebenso entschädigt wie unverschuldete Abwesenheiten auf der Grundlage von Artikel 324a OR. Gemäss der EU-Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wird dies nicht gefordert. Die festgestellten Unterschiede zwischen dem schweizerischen und dem EU-Recht sind punktuell und betreffen oft Details. Die grössten Abweichungen zwischen Schweizer und EU-Recht bestehen vor allem bei zwei neueren Richtlinien, die den Arbeitnehmenden umfangreiche individuelle Rechte zuerkennen. Hierbei handelt es sich um die Richtlinie (EU) 2019/1152 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union und die Richtlinie (EU) 2019/1158 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige, die eine Reihe klar ausformulierter Rechte enthalten, die im innerstaatlichen Recht der Schweiz nicht unbedingt existieren; so etwa bestimmte Vorschriften, die den Arbeitnehmenden vorhersehbarere Arbeitsbedingungen bieten sollen, und die Gewährung eines individuellen Rechts auf einen viermonatigen Elternurlaub vor Erreichen eines bestimmten Alters des Kindes. Diese Feststellung wird allerdings im Hinblick auf die Richtlinie (EU) 2019/1152 dadurch relativiert, dass die allgemeinen Regelungen des Schweizer Arbeitsrechts und die Rechtsprechung in diversen Punkten einen gleichwertigen oder zumindest sehr ähnlichen Schutz gewährleisten wie in der EU. Was die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben betrifft, so gibt es auf Bundesebene keinen Elternurlaub. In einigen Branchen oder Unternehmen wird er jedoch gewährt. Im Kanton Genf hat das Volk am 18. Juni 2023 eine Initiative angenommen, die die Einführung eines kantonalen Elternurlaubs von 24 Wochen verlangt. Dieser neue Urlaub sollte nach dem Vorbild der Mutterschaftsversicherung paritätisch durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge finanziert werden. Am 22. Mai 2024 gab der Bundesrat bekannt, dass der neue Artikel der Genfer Verfassung zur Einführung einer Elternschaftsversicherung nicht mit dem Bundesrecht vereinbar sei. Allerdings hat der Bundesrat eine Änderung des Bundesgesetzes über den Erwerbsersatz vorgeschlagen, die eine umfassende kantonale Elternschaftsversicherung künftig erlauben würde. Zudem setzt die Schweiz auf einen gelebten Sozialdialog. Wie bereits in der ersten Antwort des Bundesrates auf das Postulat festgehalten, hat sich dieser Dialog sowohl in Zeiten der Hochkonjunktur wie auch in Zeiten von wirtschaftlicher Abschwächung sehr bewährt, was verschiedene Indikatoren zeigen (Arbeitslosigkeit, Beschäftigung, Lohnentwicklung und Lohnverteilung). Eine einseitige Übernahme dieser Richtlinien würde den Handlungsspielraum der schweizerischen Sozialpartner beschränken ohne Vorteile zu bieten.
Fazit: Keine Anpassung des Schweizer Rechts erforderlich
Selbst wenn durch eine Annäherung des Schweizer Rechts an diese EU-Richtlinien die Vorhersehbarkeit des Rechts und die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben verbessert würden, ist die Situation mit Blick auf den Arbeitnehmerschutz insgesamt ausgewogen und gleichwertig. Somit ist gemäss Bundesrat zurzeit keine Anpassung des Schweizer Rechts erforderlich, um das gleiche Schutzniveau zu erreichen.
Zudem setzt die Schweiz auf einen gelebten Dialog zwischen den Sozialpartnern. Dieser Ansatz hat sich in Phasen der Hochkonjunktur wie auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten bewährt. Eine einseitige Übernahme der EU-Richtlinien würde den Handlungsspielraum der Sozialpartner in der Schweiz einschränken, ohne Vorteile zu bringen.
Autor: Nicolas Facincani
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