Mit Entscheid 4A_29/2023 vom 12. August 2024 beurteilte das Bundesgericht einen Fall, welches Ansprüche aus unbezahlt gebliebenen Löhnen und Überstunden zum Gegenstand hatte. In der Begründung wies das Bundesgericht daraufhin, dass das Vorbringen der Arbeitgeberin, wonach die Ansprüche aus Überstundenarbeit verwirkt seien, nicht ausreichend ausformuliert wurden. Darüber hinaus sah das Bundesgericht keine willkürliche Tatsachenfeststellung in den Entscheidungen der Vorinstanzen, insbesondere bezüglich der Berücksichtigung der Arbeitsstunden der Klägerin. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:

 

Sachverhalt und Instanzenzug

Die Arbeitnehmerin war bei der A. SA (nachfolgend: Arbeitgeberin) als Vollzeitkellnerin angestellt. Der Arbeitsvertrag sah eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 45 Stunden und einen Bruttomonatslohn von Fr. 3’407 (erhöht auf Fr. 3’417 ab 1. Januar 2017) vor. Die Parteien vereinbarten zudem einen Abzug von Fr. 240.- pro Monat für die Verpflegung durch die Arbeitgeberin. Mit Schreiben vom 15. Dezember 2017 kündigte die Arbeitnehmerin ihr Arbeitsverhältnis ordentlich auf den 31. Januar 2018.

Die Arbeitnehmerin klagte beim Pretore des Bezirks Lugano (erstinstanzliches Gericht) eine Forderung von Fr. 7’194.76 zzgl. Zinsen für nicht ausbezahlten Lohn, CHF 369.70 zuzüglich Zinsen für nicht konsumierte Lebensmittel, nicht ausbezahlte Familienzulagen (zuzüglich Zins) sowie CHF 98.00 als Verzugszinsen von 5 % auf dem verspätet ausbezahlten Lohn für den Monat Januar 2018 ein.

Die Arbeitgeberin bestritt die Forderungen und beantragte, die Klage in vollem Umfang abzuweisen. Der Pretore verurteilte die Arbeitgeberin zur Zahlung von Fr. 7’854.60 für nicht bezahlte Familienzulagen zzgl. 5% Zins, Fr. 7’194.76 zzgl. Zinsen für nicht ausbezahlte Löhne, Fr. 369.70 zzgl. Zinsen für nicht konsumierte Lebensmittel sowie Fr. 98.- als Verzugszinsen auf den Januarlohn 2018.

Dagegen erhob die Arbeitgeberin Berufung. Das Appellationsgericht Tessin (zweitinstanzliche Gericht) hiess die Berufung teilweise gut und aberkannte die Zahlung für die nichtbezahlten Familienzulagen. Hingegen bestätigte es die restlichen erstinstanzlich anerkannten Forderungen.

Die Arbeitgeberin focht das Urteil mit Beschwerde in Zivilsachen und subsidiärer Verfassungsbeschwerde an. Die Arbeitgeberin rügte im Wesentlichen eine Verletzung von Art. 321c OR, eine Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Willkürverbots sowie eine unrichtige Sachverhaltsfeststellung.

 

Exkurs

Um den hiesigen Bundesgerichtsentscheid nachvollziehen zu können ist ein Blick in den Landes-Gesamtarbeitsvertrags des Gastgewerbes (nachfolgend: L-GAV, auf italienisch: CCNL) notwendig. Insbesondere ist die Bestimmung zum Arbeitsplan, -zeiterfassung und -zeitkontrolle zu berücksichtigen. Dieser lautet wie folgt:

Art. 21 L-GAV: Arbeitsplan/Arbeitszeiterfassung/Arbeitszeitkontrolle

1 Jahresbetriebe haben unter Beizug der Mitarbeiter 2 Wochen im Voraus für 2 Wochen, Saisonbetriebe 1 Woche im Voraus für 1 Woche, schriftliche Arbeitspläne zu erstellen. Ausser in dringenden Fällen müssen nachträgliche Abänderungen gegenseitig abgesprochen werden.

2 Der Arbeitgeber ist für die Erfassung der geleisteten Arbeitszeit verantwortlich (Arbeitszeiterfassung). Die Arbeitszeiterfassung ist mindestens einmal monatlich vom Mitarbeiter zu unterzeichnen. Überträgt der Arbeitgeber die Erfassung der Arbeitszeit dem Mitarbeiter, ist sie mindestens einmal monatlich vom Arbeitgeber zu unterzeichnen.

3 Der Arbeitgeber führt Buch über die effektiven Arbeits- und Ruhezeiten (Arbeitszeitkontrolle). Der Mitarbeiter kann jederzeit Auskunft über Arbeits- und Ruhezeiten, Feiertage- und Ferienguthaben verlangen

4 Kommt der Arbeitgeber seiner Buchführungspflicht nicht nach, wird eine Arbeitszeiterfassung oder eine Arbeitszeitkontrolle des Mitarbeiters im Streitfall als Beweismittel zugelassen.

 

Erwägungen des Bundesgerichts

Zunächst machte das Bundesgericht Ausführungen zum Streitwert. Es führte aus, dass – gemäss Art. 51 Abs. 1 lit. a BGG – sich der Streitwert bei einer Beschwerde gegen einen Endentscheid nach den vor der Vorinstanz streitig gebliebenen Feststellungen bestimmt. Hierfür ist es unerheblich, wie diese Feststellungen im kantonalen Gerichtsverfahren ausgefallen sind und welcher Betrag vor dem Bundesgericht streitig bleibt. Zu den vor dem Appellationsgericht strittigen Forderungen gehörte insbesondere die Forderung von Fr. 7’854.60 an Familienzulagen. Der Umstand, dass die Forderung (vorinstanzlich) gutgeheissen wurde und der hier noch strittige Betrag somit unter dem Mindestbetrag von Fr. 15’000 liegt, ist nicht entscheidend: «Il fatto che l’appello della ricorrente sia stato accolto per quanto concerne tale pretesa e che l’importo ancora litigioso in questa sede sia quindi inferiore a quello minimo di fr. 15’000.– non è determinante. In applicazione dell’art. 51 cpv. 1 lett. a LTF, tale pretesa (fr. 7’854.60) deve essere presa in considerazione ai fini del valore litigioso.» (Urteil des Bundesgerichts 4A_29/2023 vom 12. August 2024, E. 1.2). Demzufolge trat das Bundesgericht auf die Beschwerde in Zivilsachen ein, sodass auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht weiter eingegangen wurde.

 

Ausschöpfung des Instanzenzugs

Die Arbeitgeberin rügte eine Verletzung von Art. 321c OR mit der Begründung, dass es zwingend sei, dass die Arbeitnehmerin ihren Anspruch auf Überstundenvergütung auch zeitnah geltend mache. Sie behauptete, die angeblich bereits 2016 geleisteten Überstunden seien von der Arbeitnehmerin erst im Juli 2018 geltend gemacht worden. Dies sei verspätet, verstosse gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, weshalb der Anspruch auf Überstundenvergütung verwirkt sei.

Das Bundesgericht rief zunächst in Erinnerung, dass der Rechtsweg vor dem kantonalen Gericht nicht nur in formeller Hinsicht ausgeschöpft werden muss, sondern auch in materieller Hinsicht (BGE 146 III 203, E. 3.3.4; BGE 145 III 45, E. 2.2.2; BGE 143 III 290, E. 1.1). Im vorliegenden Fall hatte die Arbeitgeberin vor dem Appellationsgericht lediglich die Bewertung der von der Arbeitnehmerin geleisteten Überstunden vorgebracht. Sie verwies auf die Möglichkeit, diese zurückzufordern und durch Freizeit auszugleichen.

Die Fragen der Verwirkung des Anspruchs auf Überstundenvergütung wegen verspäteter Geltendmachung und des angeblichen Rechtsmissbrauchs wurden vom Appellationsgericht weder vorgetragen noch geprüft. Da dies nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens war, verstösst das Vorbringen der Arbeitgeberin gegen den Grundsatz der materiellen Erschöpfung der kantonalen Rechtsmittel und ist deshalb unzulässig (vgl. BGE 147 III 172, E. 2.2): «Le questioni della perenzione della pretesa di retribuzione del lavoro straordinario per la sua invocazione tardiva e dell’asserito abuso di diritto non sono state sottoposte né vagliate dalla Corte cantonale e non erano pertanto oggetto della procedura di appello. Sollevata per la prima volta in questa sede, la censura disattende il principio dell’esaurimento materiale delle istanze cantonali e deve di conseguenza essere dichiarata inammissibile (cfr. DTF 147 III 172 consid. 2.2).» (Urteil des Bundesgerichts 4A_29/2023 vom 12. August 2024, E. 3.3.). Zudem hatte das kantonale Gericht nicht festgestellt, dass die Überstunden von der Beschwerdegegnerin erst im Juli 2018 geltend gemacht wurden: «Peraltro, la Corte cantonale non ha accertato che il lavoro straordinario è stato fatto valere dall’opponente soltanto nel luglio del 2018.» (Urteil des Bundesgerichts 4A_29/2023 vom 12. August 2024, E. 3.3).

 

Kassenbeleg als unzureichender Nachweis der Arbeitszeit i.S.v. Art. 21 L-GAV

Die Arbeitgeberin rügt vor Bundesgericht weiter, dass die Vorinstanz den Sachverhalt willkürlich festgestellt habe. Die Vorinstanz habe die vorgelegten Daten zur Berechnung der Überstunden zu Unrecht als unzulässig erachtet.

Das Bundesgericht erwog, dass sich die Arbeitgeberin nicht ausreichend mit den Erwägungen der Vorinstanz auseinandersetzte. So begründet sie weder eine offensichtlich unhaltbare Tatsachenfeststellung noch einen Verstoss gegen Art. 21 L-GAV. Die Vorinstanz hat denn auch die vorgebrachten Dokumente – wie von der Arbeitgeberin vorgebracht – nicht unberücksichtigt gelassen, sondern festgestellt, dass die von der Arbeitnehmerin geleisteten Überstunden auf den Kassenbelegen nicht ersichtlich seien: «La ricorrente non si confronta puntualmente con la valutazione dei documenti prodotti dalle parti esposta nella sentenza impugnata e non sostanzia né un accertamento dei fatti manifestamente insostenibile né una violazione dell’art. 21 CCNL con una motivazione conforme alle esposte esigenze. Come visto, i giudici cantonali non hanno omesso di considerare i documenti da lei versati agli atti, ma hanno spiegato le ragioni per cui gli stessi non permettevano di stabilire in modo attendibile le ore effettivamente lavorate dall’opponente. La ricorrente non spiega specificamente per quali ragioni questo accertamento sarebbe manifestamente insostenibile e di conseguenza arbitrario.» (Urteil des Bundesgerichts 4A_29/2023 vom 12. August 2024, E. 4.3). Zwar gehe der Zeitpunkt des täglichen Kassenschlusses hervor, nicht aber der Zeitpunkt, zu dem die Arbeitnehmerin ihre Arbeit beendet hat, was nicht unbedingt mit dem Zeitpunkt des Kassenschlusses übereinstimmt: «La Corte cantonale ha osservato che la ricorrente non aveva poi sostanziato l’asserita incompatibilità dei conteggi dell’opponente (doc. L e M) con gli scontrini di cassa (doc. 5 e 6), ricordato altresì che questi ultimi non permettevano di stabilire quando l’opponente aveva realmente terminato la sua attività lavorativa giornaliera, la quale non coincideva necessariamente con l’orario di chiusura della cassa.» (Urteil des Bundesgerichts 4A_29/2023 vom 12. August 2024, E. 4.2).

Aus dem Tageseinsatzplan liessen sich überdies zwar die Freitage, Feiertagen, Krankheits- und Unfalltagen auch die Arbeitsschichten (morgens, nachmittags oder abends) entnehmen, jedoch ohne Angabe der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden der Arbeitnehmerin. Das Appellationsgericht stellte richtigerweise fest, dass diese Unterlagen keine gültige Berechnung der tatsächlichen Arbeitszeiten und Ruhetage im Sinne einer Arbeitszeitkontrolle im Sinne von Art. 21 Abs. 2 und 3 L-GAV darstellten: «La Corte cantonale ha ritenuto che tali documenti non costituivano un valido conteggio delle ore di lavoro e dei giorni di riposo effettivi nel senso di un controllo del tempo di lavoro giusta l’art. 21 n. 2 e 3 del contratto collettivo nazionale di lavoro dell’industria alberghiera e della ristorazione (CCNL) (Urteil des Bundesgerichts 4A_29/2023 vom 12. August 2024, E. 4.2).

Nach dem Gesagten schützte das Bundesgericht den vorinstanzlichen Entscheid und verneinte eine unzureichende Auseinandersetzung mit den eingereichten Dokumenten. Im Gegenteil betonte es, dass die Vorinstanz die Unterlagen nicht unberücksichtigt gelassen habe, sondern die Gründe dargelegt hat, weshalb sie keine zuverlässige Bestimmung der von der Arbeitnehmerin tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zulassen.

 

Beweislastumkehr aus Art. 21 L-GAV?

Die Arbeitgeberin brachte zudem vor, dass die vorinstanzliche Berechnung der Überstunden willkürlich und rechtsmissbräuchlich sei. So stelle Art. 21 L-GAV lediglich eine Erleichterung der Beweislast dar. Die Beweislast liege aber weiterhin beim Arbeitnehmer.

Hierzu führte das Bundesgericht aus, dass wenn ein Arbeitnehmer nachweisen kann Überstunden geleistet zu haben, die Anzahl aber nicht beziffern kann, der Richter die Möglichkeit hat diese zu schätzen (Art. 41 Abs. 2 OR). Mit Verweis auf einen anderen Bundesgerichtsentscheid (BGE 128 III 271, E. 2b/aa) präzisierte das Bundesgericht im vorliegenden Fall, dass dies nicht zu einer Beweislastumkehr führe. Die Arbeitnehmerin müsse möglichst alle Umstände darlegen und beweisen, die es erlauben, die Anzahl der geleisteten Überstunden zu beurteilen. Art. 21 L-GAV gewährt dem Arbeitnehmer in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Beweiserleichterung. Da der Arbeitgeber für die Aufzeichnung der geleisteten Arbeitsstunden verantwortlich und dazu verpflichtet ist, sieht Art. 21 Abs. 4 L-GAV vor, dass im Streitfall die vom Arbeitnehmer geführte Arbeitszeiterfassung oder Arbeitszeitkontrolle als Beweismittel zulässig ist, wenn der Arbeitgeber dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Diese Regelung führt nicht zu einer echten Umkehr der Beweislast, sondern verleiht der vom Arbeitnehmer durchgeführten Kontrolle Beweiswert und nicht nur die Behauptung einer Partei.

Indessen war die Vorinstanz berechtigt, die von der Arbeitnehmerin vorgelegte Abrechnung heranzuziehen, um die Zahl der von ihr geleisteten Überstunden zu ermitteln. Entgegen dem Vorbringen der Arbeitgeberin hat die Vorinstanz die Beweislast für die Überstunden, welche bei der Arbeitnehmerin lag, somit auch nicht umgekehrt. Durch die von der Arbeitnehmerin ins Recht gelegte Arbeitszeitaufstellung, welche die Vorinstanz als zuverlässig erachtete, ist die Arbeitnehmerin ihrer Beweislast nachgekommen, weshalb die Beschwerde unbegründet ist: «Da quanto qui esposto discende che, in assenza di un’adeguata registrazione dell’orario di lavoro effettivo da parte della ricorrente, il Tribunale d’appello poteva, giusta l’art. 21 CCNL, la cui applicabilità alla fattispecie non è seriamente contestata, riferirsi al conteggio versato agli atti dall’opponente per determinare il numero di ore supplementari da lei eseguite. Contrariamente alla tesi ricorsuale, i giudici cantonali non hanno rovesciato l’onere probatorio relativo alle ore di lavoro straordinario, che era a carico della lavoratrice (DTF 129 III 171, consid. 2.4, pag. 176; sentenza 4A_338/2011del 14 dicembre 2011 consid. 2.2). Hanno per contro considerato attendibile il conteggio delle ore lavorative da lei presentato, ritenendo quindi ch’ella aveva adempiuto il suo onere probatorio. La censura è pertanto infondata.» (Urteil des Bundesgerichts 4A_29/2023 vom 12. August 2024, E. 5.2).

Zusammenfassend hielt das Bundesgericht fest, dass in der Streitwertberechnung nach Art. 51 Abs. 1 lit. a BGG es unerheblich ist, ob die strittige Forderung vorinstanzlich teilweise gutgeheissen wurde und somit der noch offene Betrag vor Bundesgericht die Streitwertgrenze von Fr. 15’000 nicht erreicht. Weiter ging das Bundesgericht auf das Vorbringen der Arbeitgeberin, wonach der Anspruch auf Überstunden verwirkt sei, mangels nicht erschöpfter materieller Rechtskraft nicht ein. Mit der Willkürrüge vermochte die Arbeitgeberin ebenfalls nicht durchzudringen, zumal das Bundesgericht die vorinstanzlichen Ausführungen zur Nachweisbarkeit der Überstunden schützte. So waren die eingereichten Kassenbelege der Arbeitgeberin unzureichend, was die Dokumentation von Überstunden betraf.

 

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Autoren: Nicolas Facincani Matteo Ritzinger

 

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