In den letzten Jahren haben das Bundesgericht sowie auch vermehrt kantonale Gerichte Kündigungen von älteren Arbeitnehmern mit langer Dienstzeit als missbräuchlich erachtet. Dabei geht es um ältere Arbeitnehmer mit langer Dienstzeit, wobei das Bundesgericht bis heute offenliess, wann ein Arbeitnehmer als älter (ab ca. 58 bis 60 Jahren) und wann eine Dienstzeit als lang betrachtet werden darf (ab 12 bis 15 Dienstjahren).
In einem Entscheid aus dem Jahr 2014 (BGer 4A_384/2014 vom 12. November 2014) hielt das Bundesgericht fest, dass für die Pflichten des Arbeitgebers im Zusammenhang mit einer Kündigung das fortgeschrittene Alter eines Arbeitnehmers mit langer Dienstzeit eine massgebliche Rolle spiele. Für diese Arbeitnehmerkategorie gelte eine erhöhte Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Daraus sei zu schliessen, dass bei älteren Arbeitnehmern der Art und Weise der Kündigung besondere Beachtung zu schenken sei. Der Arbeitnehmer habe namentlich Anspruch darauf, rechtzeitig über die beabsichtigte Kündigung informiert und angehört zu werden, und der Arbeitgeber sei verpflichtet, nach Lösungen zu suchen, welche eine Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses ermöglichen. Ein absoluter Kündigungsschutz für diese Kategorie von Arbeitnehmenden bestehe indes dennoch nicht, würde ein solcher doch das Prinzip der Kündigungsfreiheit grundsätzlich in Frage stellen. Höchstrichterlich sei denn auch schon eingeräumt worden, dass sich eine Kündigung unter Umständen, selbst kurz vor der Pensionierung, als unumgänglich erweisen könne. Diesfalls würde aber ein in erhöhtem Masse schonendes Vorgehen verlangt.
Einzelfallbetrachtung notwendig
In neuster Zeit hielt das Bundesgericht aber vermehrt fest, man könne nicht allgemeine Regeln aufstellen und es sei im Einzelfall zu prüfen, ob die zusätzlichen Pflichten tatsächlich zur Anwendung gelangten.
Im Entscheid des Bundesgerichts 4A_117/2023 vom 15. Mai 2023 hielt das Bundesgericht fest, dass das Obligationenrecht keine Pflicht, die Gegenpartei vor Aussprechen einer Kündigung anzuhören oder sie zu verwarnen, kenne. Es betonte weiter, dass im Privatrecht eine generelle Pflicht, eine Kündigung auf Verhältnismässigkeit hin zu überprüfen, fehle. Es ist also gerade nicht verlangt, vorgängig an eine Kündigung stets mildere Massnahmen zu prüfen. Die Vorinstanz hatte in diesem Fall festgehalten, dass nach einer langen Dienstzeit eines Arbeitnehmers beim Arbeitgeber und kurz bevorstehender Pensionierung des Ersteren eine erhöhte Fürsorgepflicht bestehe und diese einer Kündigung durch den Arbeitgeber zwar nicht entgegenstehe, aber eine (besonders) schonende Rechtsausübung gebiete. Dies stehe in keinem Widerspruch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung: Dabei habe er den Arbeitnehmer frühzeitig über die beabsichtigte Kündigung zu informieren und eine sozialverträglichere Alternative zur Kündigung zumindest zu prüfen. Der Arbeitgeber habe bei älteren Arbeitnehmern der Art und Weise der Kündigung besondere Beachtung zu schenken, wobei sich der Umfang seiner Fürsorgepflicht auch bei älteren Arbeitnehmern nach den Gesamtumständen bestimme.
Entscheid des Bundesgerichts 4A_617/2023 vom 8. Oktober 2024
In diesem Entscheid fasste das Bundesgericht die bisherige Rechtsprechung zusammen und betonte insbesondere die Wichtigkeit der Einzelfallbetrachtung:
Eine Kündigung sei nicht per se missbräuchlich, wenn sie einen älteren Arbeitnehmer mit langer Betriebszugehörigkeit betreffe (Urteile 4A_117/2023 vom 15. Mai 2023 E. 3.4.2, 4A_44/2021 vom 2. Juni 2021 E. 4.3.2). Laut Mauro Müller könne der missbräuchliche Charakter nur im Einzelfall festgestellt werden (französische Übersetzung des Kommentars zum Urteil 4A_186/2022 in iusNet DT-AS, November 2022). Das Bundesgericht habe kürzlich klargestellt, dass das Obligationenrecht den Arbeitgeber nicht verpflichte, den Arbeitnehmer vor der Kündigung anzuhören oder zu warnen (Urteil 4A_117/2023 E. 3.4.2). Ein formelles Recht auf Anhörung bestehe daher nicht, dessen Missachtung eine ordentliche Kündigung missbräuchlich machen würde (Aliénor de Dardel, PJA 2023, S. 423 ff.). Zudem sehe das Privatrecht keine allgemeine Pflicht vor, eine Kündigung der Verhältnismäßigkeit zu unterwerfen, d. h. eine Kündigung als letztes Mittel zu wählen (oben genannte Urteile 4A_117/2023 E. 3.4.2, 4A_44/2021 E. 4.3.2).
Allerdings müsse der Arbeitgeber besondere Rücksicht auf Arbeitnehmer nehmen, die kurz vor dem Rentenalter stehen und lange im Unternehmen tätig gewesen seien (Urteil 4A_384/2014 vom 12. November 2014 E. 4 und 5). Das Ausmass der Rücksichtnahme sei im Einzelfall zu beurteilen, wie auch in den jüngsten Urteilen betont werde (Urteile 4A_117/2023 E. 3.4.2 in fine, 4A_44/2021 E. 4.3.2 in fine). Ein Mangel an Rücksichtnahme habe in Fällen mit älteren Arbeitnehmern den Ausschlag gegeben (Urteil 4A_117/2023; Urteil 4A_307/2022 vom 18. Januar 2023 E. 4.2). In der Lehre bestehe weitgehend Einigkeit über diese Einzelfallbeurteilung (Portmann, DTA 2021 S. 251 f.; Spring, Newslettter DroitDuTravail.ch, September 2021; Facincani/Brunner, PJA 2021 S. 1421 ff.). Kritiker wie Denis Humbert bedauerten jedoch, dass die Rechtsprechung keine präzisen Leitlinien festgelegt habe (Revue de l’avocat 2024, S. 18 Punkt VI).
Das Bundesgericht wies zudem darauf hin, dass eine Kündigung ein Missverhältnis der Interessen zementieren könne, was sie missbräuchlich erscheinen lasse (BGE 132 III 115 E. 5.5). Dabei könnten Erwägungen, wie die Bedeutungslosigkeit der Kündigung für den Arbeitgeber oder umgekehrt ein erhebliches Interesse an der Kündigung, eine Rolle spielen, etwa bei Restrukturierungen (Urteil 4A_186/2022 E. 4.3) oder unzureichenden Leistungen des Arbeitnehmers (Urteil 4A_60/2009 vom 3. April 2009 E. 3.2). Entscheidend sei jedoch nicht allein, dass eine Kündigung zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation des Arbeitnehmers führe (Urteile 4A_390/2021 E. 3.1.5; 4A_419/2007 E. 2.7).
Beurteilung des Einzelfalls
Aus dem vom kantonalen Gericht festgestellten Sachverhalt, welcher dem Entscheid des Bundesgerichts 4A_617/2023 vom 8. Oktober 2024 zugrunde lag, ging hervor, dass dem Angestellten am 27. Mai 2020 gekündigt wurde, obwohl er 62 Jahre alt war und seit fast 19 Jahren als Bäcker für die Beschwerdeführerin arbeitete. Der Arbeitgeber bezeichnete ihn als ausgezeichneten Fachmann, der nie fehlte und sowohl von seinen Kollegen als auch von seinen Vorgesetzten geschätzt wurde.
Das kantonale Gericht befand, dass die am 27. Mai 2020 zugestellte Kündigung missbräuchlich war – was auch vom Bundesgericht geschützt wurde. Die Kündigung erfolgte am selben Tag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeit wieder aufnahm, nach dem Ende der Kurzarbeit im Zusammenhang mit der COVID-2019-Pandemie, die das Unternehmen am 18. März gezwungen hatte, den Betrieb einzustellen. Es fand ein Entlassungsgespräch statt, bei dem dem Arbeitnehmer ein Schreiben ausgehändigt wurde, das er unterschreiben sollte. Die Arbeitgeberin hatte sich auf den Rückgang der Warenproduktion berufen, der mit dem Rückgang der Kundenfrequenz in den Verkaufsstellen zusammenhing, was sie dazu veranlasst hatte, das Labor im Bahnhof vorübergehend zu schliessen.
Gemäss dem kantonalen Gericht hätte die Arbeitgeberin mit dem Arbeitnehmer die geplante provisorische Umstrukturierung besprechen und mit ihm prüfen müssen, welche alternativen Lösungen sich anboten, die sehr wohl existierten, da der Betroffene bereits früher in einem Labor gearbeitet hatte. Sie hätte ihm ein wenig Empathie entgegenbringen können. Stattdessen hatte sie ihn schroff entlassen.
Der Arbeitnehmer war von dem Verfahren so schockiert, dass er krank wurde. Die ärztlichen Bescheinigungen, die im Verfahren vorgelegt wurden, zeigten das psychische Leiden, das durch diese Situation verursacht wurde. Dieser Mangel an Rücksichtnahme bestätigte sich auch nach der Zustellung der Kündigung. Obwohl der entlassene Arbeitnehmer seit mehr als drei Monaten krank war, forderte die Arbeitgeberin ihn auf, die restliche Kündigungsfrist im Labor abzuleisten. Die Krankenkasse hatte – zunächst – eine Wiederaufnahme der Tätigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt für möglich gehalten.
Weitere Beiträge zur missbräuchlichen Kündigung (Auswahl):
- Die missbräuchliche Entlassung
- Höhe der Entschädigung bei missbräuchlicher Kündigung
- Geltendmachung einer missbräuchlichen Kündigung
- Missbräuchliche Art und Weise der Kündigung – Entschädigung geschuldet!
- Missbräuchliche Entlassung einer Arbeitnehmervertreterin
- Der Arbeitgeber war schuld?!
- Anfechtung der Kündigung – Wiedereinstellung
- Kündigung nach Verletzung der Fürsorgepflicht – Missbräuchlich!
- Arbeitgeberkündigung – Erhöhte Fürsorgepflicht bei älteren Arbeitnehmern
- Missbräuchliche Kündigung wegen elektromagnetischer Felder?
- Missbräuchliche Kündigung nach Schlägerei
- Missbräuchliche Entlassung eines Militärarztes
- Kündigung wegen Vertrauensverlust nach sexueller Affäre
- Diskriminierung bei der Anstellung
- Definition von Mobbing
- Änderungskündigungen bei Telekommunikations-Unternehmen?
- Massenentlassungen – die Grundlagen
- Gekündigt? was kann man machen?
- Schadenersatz bei missbräuchlicher Kündigung
- Keine missbräuchliche Kündigung bei mangelhafter Leistung
- Verpasste Fristen bei der missbräuchlichen Kündigung
- Berücksichtigung der Anstellungsdauer bei Pönalzahlung (Art. 336a OR)?
- Klage auf Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Kündigung
- Missbräuchliche Kündigung aufgrund der Verletzung des Gebotes der schonenden Rechtsausübung
- Missbräuchliche Kündigung nach Ablauf der Probezeit
- Entwicklungen bei der Alterskündigung
- Chambre des prud’hommes bestätigt Missbräuchlichkeit einer Alterskündigung
- Missbräuchliche Alterskündigung eines Kochs
- Missbräuchliche Kündigung aufgrund andauernder Krankheit
- Kündigung trotz oder wegen Krankheit?
Autor: Nicolas Facincani
Weitere umfassende Informationen zum Arbeitsrecht finden Sie hier.
Umfassende Informationen zum Gleichstellungsrecht finden Sie hier.