Immer wieder sind Verträge und Bestätigungen unklar, auch im Bereich des Arbeitsrechts. In diesem Fall sind diese Auszulegen so auch im Entscheid des Bundesgerichts 4A_102/2024 vom 1. Oktober 2024.
Vertragsauslegung
Ziel der Vertragsauslegung ist es, in erster Linie den übereinstimmenden wirklichen Willen der Parteien festzustellen (Art. 18 Abs. 1 OR). Diese subjektive Vertragsauslegung beruht auf Beweiswürdigung, die vorbehaltlich der Ausnahmen von Art. 97 und 105 BGG der bundesgerichtlichen Überprüfung entzogen ist (BGE 144 III 93 E. 5.2.2; Urteil 4A_233/2020 vom 22. Oktober 2020). Steht eine tatsächliche Willensübereinstimmung fest, bleibt für eine Auslegung nach dem Vertrauensgrundsatz kein Raum (BGE 132 III 626 E. 3.1; 128 III 70 E. 1a). Erst wenn eine tatsächliche Willensübereinstimmung unbewiesen bleibt, sind zur Ermittlung des mutmasslichen Parteiwillens die Erklärungen der Parteien aufgrund des Vertrauensprinzips auszulegen. Nur diese objektivierte Auslegung von Willenserklärungen überprüft das Bundesgericht frei als Rechtsfrage, wobei es auch in diesem Rahmen an Feststellungen des kantonalen Gerichts über die äusseren Umstände sowie das Wissen und Wollen der Beteiligten grundsätzlich gebunden ist (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 144 III 93 E. 5.2.3). Nach dem Vertrauensprinzip sind Willenserklärungen so auszulegen, wie sie nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang sowie den gesamten Umständen nach Treu und Glauben verstanden werden durften und mussten (BGE 143 III 157 E. 1.2.2.). Dabei ist der Wortlaut nicht allein ausschlaggebend. Zu berücksichtigen sind im Weiteren etwa die Umstände, unter denen die Erklärungen abgegeben wurden, und insbesondere der vom Erklärenden verfolgte Regelungszweck, wie ihn der Erklärungsempfänger in guten Treuen verstehen durfte und musste (BGE 138 III 659; Urteil 4D_71/2017 vom 31. Januar 2018 E. 5.1). Massgebend ist dabei der Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Nachträgliches Parteiverhalten ist bei der Auslegung nach dem Vertrauensprinzip nicht von Bedeutung; es kann höchstens – im Rahmen der Beweiswürdigung – auf einen tatsächlichen Willen der Parteien schliessen lassen (BGE 144 III 93 E. 5.2.3; 133 III 61 E. 2.2.1 E. 2.2.1).
Sachverhalt
Dem Entscheid des Bundesgerichts 4A_102/2024 vom 1. Oktober 2024 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Arbeitnehmer war vom 1. Oktober 1991 bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung am 30. April 2010 bei der der Arbeitgeberin als Qualitätsingenieur angestellt. Ab dem 1. Mai 2010 erhielt der Kläger eine Altersrente von monatlich Fr. 6’887.–. Vom 1. Mai 2010 bis zum 30. April 2011 wurde ihm zusätzlich eine Überbrückungsrente von monatlich Fr. 2’305.– ausbezahlt. Ab dem 1. Januar 2011 kamen monatlich eine variable Teuerungszulage, abhängig von der jährlichen Teuerung, sowie ein Sonderteuerungsausgleich von insgesamt Fr. 71.45 hinzu. In diesem Zusammenhang wurde den Rentnern im Januar 2011 von der Arbeitgeberin folgendes Schreiben zugestellt:
„[Die Beschwerdeführerin] entscheidet jährlich und ohne Präjudiz für die Zukunft über die Anpassung der Rentenbezüge an die Teuerung. Berücksichtigt werden dabei neben der Wirtschaftslage die finanzielle Situation der Unternehmung, allfällige Leistungsverbesserungen der PKE und die Entwicklung der Teuerung. Für das Jahr 2011 hat [die Beschwerdeführerin] beschlossen, die Bezüge der Rentnerinnen und Rentner ab dem 1. Januar 2011 um 0.5 % zu erhöhen. Wir weisen darauf hin, dass es sich dabei um eine freiwillige Leistung handelt und daraus keine Ansprüche für die Zukunft abgeleitet werden können.“
Die Teuerungszulagen beliefen sich bis Ende 2014 stets auf monatlich Fr. 71.45. Mit Schreiben vom September 2014 teilte die Beklagte den Rentnern mit, dass sie die freiwillige Rententeuerung inklusive dem Sonderteuerungsausgleich ab 1. Januar 2015 ersatzlos streichen werde. Dagegen ging der Arbeitnehmer gerichtlich vor.
Vorinstanzen
Das erstinstanzliche Gericht hiess die Klage gut und das zweitinstanzliche Gericht bestätigte dieses Urteil. Die Vorinstanz hielt fest, die Arbeitgeberin habe sich zur jährlichen Ausrichtung der Teuerungszulage verpflichtet. Die Arbeitgeberin beanstande die erstinstanzliche Beweiswürdigung, wonach die Teuerungszulage eine verbindliche Verpflichtung darstelle. Das appellatorische Vorbringen der Arbeitgeberin vermöge jedoch das Beweisergebnis der Erstinstanz nicht zu erschüttern. Für das Jahr 2011 habe der Beschwerdegegner Fr. 71.45 erhalten, bestehend aus 0.5% seiner Rente von Fr. 6’887.– (Fr. 34.45) und einem Sonderteuerungsausgleich von Fr. 37.–. In den Folgejahren habe die Arbeitgeberin auf eine Erhöhung verzichtet. Dennoch habe sie dem Beschwerdegegner während drei weiteren Jahren den gleichen Betrag als „Teuerungszulage“ ausbezahlt. Mit der Erstinstanz sei daher davon auszugehen, dass sich das Wort „dabei“ im Schreiben auf die Erhöhung der Teuerungszulage und nicht auf die Ausrichtung der Teuerungszulage beziehe. Daran ändere auch die leere Floskel „jährlich und ohne Präjudiz für die Zukunft“ nichts. Das Schreiben sei nach dem Vertrauensprinzip auszulegen, wobei Unklarheiten zu Lasten des Verfassers gingen.
In ihren Schreiben von 1993 bis 1995 habe die Arbeitgeberin noch festgehalten: „Wir legen Wert auf die Feststellung, dass die Teuerungszulage eine freiwillige Leistung der Unternehmung darstellt und keinen Rechtsanspruch begründet“. Ab 1996 habe sich die Formulierung geändert zu: „Wir legen Wert auf die Feststellung, dass diese Erhöhung eine freiwillige Leistung der Unternehmung darstellt und keinen Rechtsanspruch begründet“. Diese Änderung zeige, dass die Arbeitgeberin ab 1996 nur die Erhöhung der Teuerungszulage als freiwillige Leistung angesehen habe. Es sei nicht klar, weshalb die Beschwerdeführerin keine klarere Formulierung gewählt habe, was vorliegend einfach gewesen wäre. Bereits das Gutachten aus dem Jahr 1998 halte fest: „…Indem die D.________ bei jeder Anpassung der Teuerung den Rentnern schriftlich mitteilt, dass sie eine Leistung im entsprechenden Umfang erbringen wird, hat sie sich dazu vertraglich verpflichtet…“. Im Wissen um dieses klare Gutachten habe die Arbeitgeberin ihre Praxis beibehalten bzw. habe 1996 die Formulierung noch dahingehend geändert, dass sie den Freiwilligkeitsvorbehalt nur auf die Erhöhung bezogen habe.
Die Arbeitgeberin habe die Teuerungszulage auch unabhängig von einer Erhöhung während mindestens 21 Jahren (1993 bis 2014) ausbezahlt, ohne je eine Leistungskürzung vorgenommen zu haben. Zudem habe sie jahrzehntelang Rückstellungen zugunsten des pensionierten Personals gebildet. Der Arbeitnehmer habe aufgrund der jährlichen Schreiben und der jahrelangen Auszahlung der Teuerungszulage durch die Beschwerdeführerin darauf vertrauen dürfen, dass ihm diese auch in Zukunft immer ausbezahlt werde.
Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht hob den Entscheid der Vorinstanz auf: Entgegen der Vorinstanz liessen auch die übrigen Umstände keinen vom klaren Wortlaut des Schreibens abweichenden Schluss zu, so das Bundesgericht. So dürften für die Auslegung des Schreibens auch keine Umstände berücksichtigt werden, die dem Erklärungsempfänger zum Zeitpunkt der Erklärung nicht bekannt gewesen seien. Vorliegend betreffe dies namentlich die Schreiben der Beschwerdeführerin aus den 1990er Jahren, das Gutachten von 1988 sowie die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin von 1993 bis 2014 durchwegs Teuerungszulagen entrichtet habe, zumal der Arbeitgeber erstmals 2011 eine solche erhalten habe. Auch das nachträgliche Verhalten der Parteien sei für die objektivierte Auslegung des Schreibens unbeachtlich, weshalb auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin dem Arbeitgeber in den Jahren 2012 bis 2014 eine Teuerungszulage ausgerichtet habe, nicht berücksichtigt werden könne.
Die fraglichen Schreiben hätten in guten Treuen nur so verstanden werden können, dass sich die Beschwerdeführerin lediglich zur Ausrichtung der Teuerungszulage für das jeweilige Jahr verpflichte habe. Ein darüber hinausgehender Wille zur Zahlungsverpflichtung sei nicht erkennbar, weshalb die Beschwerdeführerin auch berechtigt war, die Ausrichtung der Teuerungszulage per Ende 2014 einzustellen. Aufgrund des ausdrücklichen Freiwilligkeitsvorbehalts ändere daran auch der Umstand nichts, dass ein ein Ruhegehaltsversprechen auch formlos möglich sei. Die Rechtsprechung in diesem Zusammenhang könne zudem nicht ohne weiteres auf die vorliegende Konstellation übertragen werden, da hier die Ausrichtung der Teuerungszulage nicht während der Dauer des Arbeitsverhältnisses, sondern erst nach dessen Beendigung vereinbart worden sei.
Demnach sei die Vorinstanz zu Unrecht von einer lebenslangen Zahlungspflicht der Beschwerdeführerin ausgegangen. Gestützt darauf kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass sich die Beschwerde als begründet erwies und gutzuheissen ist.
4.5.2. Auch die übrigen Umstände, die die Vorinstanz bei der Auslegung des Schreibens berücksichtigt hat, lassen keinen vom klaren Wortlaut des Schreibens abweichenden Schluss zu. Bei der objektivierten Auslegung kommt es nämlich darauf an, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung in guten Treuen verstehen durfte und musste. Demnach ist eine Parteierklärung so auszulegen, wie sie eine vernünftig und redlich handelnde Person in der Lage und mit den Kenntnissen des Erklärungsempfängers verstehen durfte und musste (BGE 148 III 57 E. 2.2.1; 146 V 28 E. 3.2; 90 II 449 E. 3; MÜLLER, in: Berner Kommentar, Obligationenrecht, Allgemeine Bestimmungen, 2018, N. 61 zu Art. 18 OR). Dementsprechend können für die Auslegung eines Schreibens nach dem Vertrauensprinzip keine Umstände berücksichtigt werden, die dem Erklärungsempfänger zum Zeitpunkt der Erklärung nicht bekannt waren bzw. ihm nicht hätten bekannt sein müssen (BGE 90 II 449 E. 3). In diesem Zusammenhang weist die Beschwerdeführerin zu Recht darauf hin, dass die Vorinstanz nicht festgestellt hat und vom Bescherdegegner auch nicht behauptet wird, dass er von den Schreiben der Beschwerdeführerin aus den 1990er Jahren oder dem Gutachten von 1988 Kenntnis hatte. Diese Umstände hätten daher bei der objektivierten Auslegung des Schreibens nicht berücksichtigt werden dürfen. Ebenso wenig wurde seitens der Vorinstanz erstellt oder vom Beschwerdegegner hinreichend behauptet, dass ihm bekannt gewesen sei, dass die Beschwerdeführerin von 1993 bis 2014 durchwegs Teuerungszulagen ausrichtete. So erhielt der Beschwerdegegner erstmals im Jahr 2011 eine Teuerungszulage. Auch dieser Umstand konnte daher im Rahmen der objektivierten Auslegung des Schreibens von 2011 nicht berücksichtigt werden.
4.5.3. Soweit die Vorinstanz sodann den Umstand, dass die Beschwerdeführerin dem Beschwerdegegner in den Jahren 2012 bis 2014 Teuerungszulagen ausrichtete, in ihre Auslegung einbezog, ist zu berücksichtigen, dass das nachträgliche Verhalten der Parteien für die objektivierte Auslegung unbeachtlich ist (vgl. E. 4.3 hiervor). Auch dieser Umstand konnte daher bei der Auslegung des Schreibens von 2011 nicht berücksichtigt werden. Es bleibt somit beim klaren Wortlaut des Schreibens von 2011, wonach sich die Beschwerdeführerin nur für das Jahr 2011 zur Ausrichtung einer Teuerungszulage verpflichtete und explizit festhielt, dass die Teuerungszulage eine freiwillige Leistung darstelle und keinen Anspruch auf eine künftige Ausrichtung der Zulage begründe. Mit der Erneuerung dieses Schreibens und Ausrichtung der Teuerungszulage in den folgenden drei Jahren (d.h. in 2012, 2013 und 2014), verpflichtete sich die Beschwerdeführerin sodann erneut ausschliesslich für die entsprechenden Jahre. Eine darüber hinausgehende Verpflichtung zur lebenslangen Ausrichtung der Teuerungszulage kann diesen Schreiben nicht entnommen werden.
4.5.4. Insgesamt ist die Vorinstanz zu Unrecht von einer lebenslangen Zahlungspflicht der Beschwerdeführerin ausgegangen. So konnten die fraglichen Schreiben aufgrund der ausdrücklichen und klaren Freiwilligkeitsvorbehalte vom Beschwerdegegner in guten Treuen nur so verstanden werden, dass sich die Beschwerdeführerin lediglich zur Ausrichtung der Teuerungszulage für das jeweilige Jahr verpflichtete. Eine darüber hinausgehende Verpflichtung zur lebenslangen Ausrichtung der Teuerungszulage ist hingegen nicht erkennbar. Dementsprechend war die Beschwerdeführerin auch berechtigt, die Ausrichtung der Teuerungszulage per Ende 2014 einzustellen.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Beschwerdeführerin dem Beschwerdegegner die Teuerungszulagen während vier Jahren monatlich ausbezahlt hat. Zwar hat das Bundesgericht in BGE 73 II 226 festgehalten, dass ein Ruhegehaltsversprechen auch formlos möglich ist. Im vorliegenden Fall kann jedoch, da die Auszahlung jeweils unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Freiwilligkeit erfolgte, allein die Ausrichtung der Teuerungszulage nicht als konkludenter Abschluss eines Ruhegehaltsversprechens qualifiziert werden. Jedenfalls ist zu berücksichtigen, dass BGE 73 II 226 einerseits in 1947 und damit vor der Einführung des Obligatoriums für die berufliche Vorsorge im Jahr 1985 ergangen ist und sich andererseits ausschliesslich mit der Konstellation befasst hat, dass das Ruhegehaltsversprechen bei Abschluss oder während des Arbeitsverhältnisses vereinbart wurde. Im vorliegenden Fall wurde die Ausrichtung der Teuerungszulage nicht während des Arbeitsverhältnisses, sondern mit der Zustellung des Schreibens im Januar 2011 und damit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbart, weshalb diese Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf die vorliegende Konstellation übertragen werden könnte.
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Autor: Nicolas Facincani
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