Im Entscheid BVGer A-2913/2021 vom 24. Oktober 2022 hatte das Bundesverwaltungsgericht die Frage zu beurteilen, ob eine fristlose Kündigung eines SBB-Mitarbeiters wegen sexueller Belästigung rechtmässig war. Grund für die Entlassung waren drei Vorfälle zwischen dem SBB-Mitarbeiter und einer SBB-Mitarbeiterin. Das Gericht kam zum Schluss, dass die fristlose Kündigung gerechtfertigt war, da schon eine einzelne Belästigungshandlung reichen würde, wenn diese geeignet sei, die Vertrauensgrundlage zu zerstören.
Beispiele sexueller Belästigung
Wie die nachfolgende Auflistung von Beispielen zeigt, gibt es verschieden Stufen von sexueller Belästigung. Als sexuelle Belästigung gelten etwa:
- anzügliche und zweideutige Bemerkungen über das Äussere
- sexistische Bemerkungen oder Witze über sexuelle Merkmale, sexuelles Verhalten und die sexuelle Orientierung von Frauen und Männern
- Vorzeigen von pornografischem Material
- Unerwünschte Einladungen mit eindeutiger Absicht
- unerwünschten Körperkontakten
- sexuellen Übergriffen, Nötigung oder Vergewaltigung
Sachverhalt
Dem Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts lag der folgende Sachverhalt zugrunde: Beide Mitarbeiter waren bei der SBB angestellt. Die SBB-Mitarbeiterin teilte ihrer Arbeitgeberin mit, dass sie von ihrem Arbeitskollegen belästigt worden sei und schilderte drei Ereignisse: Erstens habe er ihr vergangenen Winter im Pausenraum des Bahnhofs die Maske runtergezogen und habe versucht, sie auf den Mund zu küssen. Zweitens habe er ihr kurz darauf ebenfalls im Bahnhof – im öffentlichen Bereich – auf das Gesäss geschlagen. Drittens habe er sie im Bahnhof abgefangen und sie an der Gürtelschnalle festgehalten, als sie von ihm habe weglaufen wollen.
In der anschliessenden Befragung bestätige der Mitarbeiter diese Vorfälle. Zudem bestätigte ein weiterer SBB-Mitarbeiter den Schlag auf das Gesäss sowie das Festhalten am Hosenbund. Der Mitarbeiter wurde von der Arbeit freigestellt. Im Zuge der Sachverhaltsabklärung wurde ihm das rechtliche Gehör gewährt, wobei er die Vorwürfe bestritt. Daraufhin lösten die SBB das Arbeitsverhältnis fristlos auf.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte sich in der Folge mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die fristlose Entlassung gerichtfertig war oder nicht.
Verletzung des rechtlichen Gehörs?
Der Arbeitnehmer warf seiner Arbeitgeberin zunächst eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dahingehend vor, dass das Recht auf vorherige Anhörung, auf Mitwirkung bei der Beweiserhebung, auf Akteneinsicht sowie die Begründungspflicht nicht eingehalten worden seien. Seine Arbeitgeberin habe ihn ausserdem nicht darauf hingewiesen, selber Beweise zu seiner Entlastung vorzulegen und er sei nicht darauf hingewiesen worden, dass er zumindest schriftlich Ergänzungsfragen an Mitarbeiterin und an eine Auskunftsperson stellen konnte. Ausserdem habe man ihn nicht auf sein Aussageverweigerungsrecht und auf die Selbstbelastungsfreiheit hingewiesen und die effektive Gehörsfrist habe lediglich zwei Tage betragen. Diese fehlende Verfahrensfairness bestätige seine Vorverurteilung und mache das Untersuchungsergebnis unverwertbar.
Das Bundesverwaltungsgericht erwog hinsichtlich der gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs, dass es dem Beschwerdeführer ohne Weiteres möglich war, den angeführten Kündigungsgrund sachgerecht anzufechten. Ausserdem war der Zeitraum der Frist für das rechtliche Gehör insbesondere mit Blick auf die Rechtsprechung und die bestehende Möglichkeit der Fristerstreckung sowie aufgrund des geringen Umfangs der Akten ausreichend. Aufgrund der delikaten Thematik der sexuellen Belästigung war es ausserdem sinnvoll, die Befragungen der Melderin B. sowie der Auskunftspersonen vertraulich durchzuführen. Ausserdem lassen sich mangels strafrechtlichen Charakters aus dem fehlenden Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht und auf die Selbstbelastungsfreiheit nichts zu Gunsten des Arbeitnehmers ableiten. Im Ergebnis liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Beschwerdeführers vor.
Verletzung der Fürsorgepflicht
Im Weiteren warf der Arbeitnehmer seiner Arbeitgeberin eine ungenügende Sachverhaltsabklärung und eine dadurch bedingte Verletzung der Fürsorgepflicht vor. Der Arbeitnehmer führte insbesondere aus, dass die Untersuchung nicht hätte durch seinen Vorgesetzten geführt werden dürfen, sondern eine unabhängige und fachlich dafür qualifizierte Person dafür hätte eingesetzt werden müssen. Diese fehlende Unabhängigkeit führe zur Unverwertbarkeit des Untersuchungsergebnisses. Ausserdem sei ein weiteres E-Mail nicht einbezogen, die unmittelbaren Arbeitskolleginnen der Mitarbeiterin nicht befragt und wichtige Umstände in Zusammenhang mit dem Anlass der Anzeige nicht abgeklärt worden.
Das Bundesverwaltungsgericht erwog, dass grundsätzlich auf die Befragungsprotokolle abzustellen ist, zumal die Durchführung durch den Vorgesetzten und eine HR-Beraterin rechtmässig war, da kein Konflikt zwischen ihnen und A. zur Diskussion stand. Ausserdem waren die Aussagen der Mitarbeiterin sowie der Auskunftsperson soweit schlüssig, dass die SBB zu Recht kein Anlass zu weiteren Abklärungen bezüglich der Anzeigemotivation der Mitarbeiterin sahen. Auch vor dem Hintergrund der teilweise widersprüchlichen Aussagen des Arbeitnehmers ist die vorgenommene Beweiswürdigung nachvollziehbar und nicht zu beanstanden. Es wurden ausreichende Abklärungen vorgenommen, um den rechtserheblichen Sachverhalt feststellen zu können.
Aufhebung der Kündigung
In seinem Hauptantrag beantragte der Arbeitnehmer die Aufhebung der Kündigungsverfügung und die unbefristete Weiterführung des Arbeitsverhältnisses. Diesbezüglich macht er geltend, die Kündigung sei missbräuchlich, da die Vorinstanz das Gebot schonender Rechtsausübung erheblich verletzt habe und ein krasses Missverhältnis der Interessen vorliege, insbesondere auch unter Würdigung des langdauernden und einwandfreien Arbeitsverhältnisses.
Das Bundesverwaltungsgericht führte aus, dass ein Anspruch auf Weiterbeschäftigung im Falle einer missbräuchlichen Kündigung besteht (Art. 336 OR, Art. 34c Abs. 1 lit. b BPG bzw. Ziff. 184 Abs. 1 Bst. b GAV), wobei die in Art. 336 OR aufgezählten Missbräuchlichkeitsgründe zwar nicht abschliessend sind, die anderweitige Missbräuchlichkeit aber eine vergleichbare mit den Missbräuchlichkeitsgründen aus Art. 336 OR vergleichbare Schwere voraussetzt. Eine Kündigung kann missbräuchlich sein, wenn sie aufgrund eines Umstands erfolgt, den der Arbeitgeber als Folge einer eigenen Pflichtverletzung zu verantworten hat. Verletzt sein kann insbesondere die Fürsorgepflicht. Die Fürsorgepflicht umfasst die Pflicht des (privaten oder öffentlichen) Arbeitgebers zur Achtung und zum Schutz der Persönlichkeitsgüter des Arbeitnehmers (Art. 328 OR i.V.m. Art 6 Abs. 2 BPG sowie Art. 4 Abs. 2 Bst. b und g BPG). Der Umfang dieser Fürsorgepflicht ist mit Blick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls sowie gestützt auf Treu und Glauben zu definieren.
Nachdem das Bundesverwaltungsgericht die Rügen der Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie der ungenügenden Sachverhaltsabklärung und der dadurch bedingten Verletzung der Fürsorgepflicht nicht hörte (vgl. oben), lag keine Verletzung von wichtigen Verfahrensregeln oder Mitwirkungsrechten vor. Zu prüfen blieb, ob die geltend gemachte Nachlässigkeit bzw. Voreingenommenheit als Fürsorgepflichtverletzung zu betrachten war. Das Bundesverwaltungsgericht kam mit Blick auf die Voreingenommenheit zum Schluss, dass die SBB den Sachverhalt seriös abgeklärt haben und die Fragestellungen der SBB keinen Rückschluss auf die von A. behauptete Voreingenommenheit zulassen, sondern vielmehr in einem engen Zusammenhang zur untersuchten Thematik der sexuellen Belästigung stehen. Auch sei nicht erkennbar, dass ohne die gebotene Rücksicht vorgegangen worden wäre.
Insgesamt sei im Verhalten der SBB damit keine Fürsorgepflichtverletzung zu erblicken, womit es an der Missbräuchlichkeit der Kündigung fehle und weshalb folglich kein Anspruch des Arbeitnehmers auf Weiterbeschäftigung bestehe.
Keine Entschädigung
Eventualiter der Arbeitnehmer eine Entschädigung und eine Lohnfortzahlung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist wegen einer sachlich nicht gerechtfertigten Kündigung.
Hierzu führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis bei Vorliegen eines wichtigen Grundes fristlos kündigen können (vgl. Art. 10 Abs. 4 BPG bzw. Ziff. 176 Abs. 1 GAV) und dass als wichtiger Grund jeder Umstand zähle, bei dessen Vorhandensein der kündigenden Partei nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden dürfe (Ziff. 176 Abs. 2 GAV). Die wichtigen Gründe orientieren sich dabei an denjenigen aus Art. 337 OR, der die fristlose Auflösung privatrechtlicher Arbeitsverhältnisse regelt, wobei jedoch die Besonderheiten des öffentlichen Rechts zu berücksichtigen sind. Als wichtiger und damit eine fristlose Kündigung rechtfertigender Grund kommt insbesondere eine schwere Verletzung der Treuepflicht seitens des Arbeitnehmers in Betracht (Art. 20 Abs. 1 BPG und Ziff. 36 Abs. 1 GAV). Diese verpflichtet den Angestellten die berechtigten Interessen des Arbeitgebers und des Bundes zu wahren (sog. Doppelte Loyalität). Ihr Umfang hängt stark von der Funktion und der Aufgabe des Arbeitnehmers und den betrieblichen Umständen ab. Inakzeptables Verhalten gegenüber anderen Angestellten kann ebenfalls einen wichtigen Grund nach Art. 337 OR darstellen. Gemäss Ziff. 2 Abs. 3 von Anhang 2 GAV SBB 2019 gelten namentlich sexuelle oder sexistische Belästigungen als Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten. Dem Arbeitgeber kommt bei der Frage, ob ein wichtiger Grund vorliegt, zwar ein erheblicher Ermessensspielraum zu, welcher jedoch durch die Verhältnismässigkeit begrenzt ist, weshalb die fristlose Kündigung als schwerstes dem Arbeitgeber zur Verfügung stehendes Mittel nur in Ausnahmefällen auszusprechen ist (ultima ratio).
Das Bundesverwaltungsgericht erblickte in den erstellten Verhaltensweisen des Arbeitnehmers eine sexuelle Belästigung und wertet diese (unabhängig von einer allfälligen strafrechtlichen Qualifizierung) entsprechend den obigen Ausführungen als wichtigen, eine fristlose Kündigung rechtfertigenden Grund. Diese sexuelle Belästigung gegenüber der Arbeitskollegin sei objektiv geeignet, die Vertrauensgrundlage des Arbeitsverhältnisses tiefgreifend zu erschüttern. Die diesbezügliche Schwere und die Tatsache der bestehenden sechsmonatigen ordentlichen Kündigungsfrist (vgl. Ziff. 174 Abs. 2 Bst. c GAV) sowie die bestehende Fürsorgepflicht der Arbeitgeberin gegenüber der Melderin B. lassen, wie von der SBB angenommen, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar erscheinen.
Auch die verlangte Verhältnismässigkeit der fristlosen Kündigung liege zudem vor, weshalb die Ansprüche abzuweisen waren.
Autoren: Nicolas Facincani / Laura Meier
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